67. Festival del film Locarno

Scarlett Johanssons Stöckelschuhe als Überbleibsel

Thrist

Zur Eröffnung lud das Festival den französischen Erfolgsregisseur Luc Besson ein, sein neustes Werk, den pseudowissenschaftlichen Science-Fiction-Thriller „Lucy“, zu präsentieren.  Ein Kassenfeger in den USA, vom Publikum in Locarno zu Recht mit Buhrufen bedacht. Überzeugender geriet das Comeback von Melanie Griffith, die im Kurzfilm „Thirst“ eine verwelkte, alkoholabhängige Schönheit spielt und im Publikumsgespräch freimütig über Versagensängste und Alkoholsucht sprach.

Von Christoph Aebi.

Scarlett Johansson! Luc Besson! Science-Fiction! Das bringt uns eine volle Piazza und viel Publicity. Scheint sich die künstlerische Leitung des Filmfestivals Locarno gedacht zu haben und programmierte „Lucy“, den neusten Film des französischen Erfolgsregisseurs Luc Besson, zur Festivaleröffnung auf der Piazza Grande. Hauptdarstellerin Johansson war zwar nur im Geiste anwesend, dafür war Luc Besson physisch präsent, wenn auch nur für eine Pressekonferenz und ein kurzes Hallo auf der Piazza, wofür er eigens aus Paris ein- und am gleichen Abend wieder zurückgeflogen wurde.Finanziell und promotionsmässig scheint die Rechnung aufgegangen zu sein: Mit über 8000 Besuchern war die Piazza Grande bereits am Eröffnungsabend übervoll, in früheren Festivaljahrgängen eher eine Seltenheit. Nur über die Qualität des Gebotenen schienen sich die Organisatoren nicht zu viele Gedanken gemacht zu haben. Möglicherweise hat ihnen Eindruck gemacht, dass im Film ein Leopard – das offizielle Wappentier des Festivals – vorkommt, lauernd und auf seine Beute wartend. Das Publikum in Locarno ist auf jeden Fall ein intelligentes und bedachte den Film nach der Vorführung mit einem Mini-Appläuschen und Buhrufen.

Die Sternstunde der Erleuchtung im Hirne Bessons

Schnell, witzig und intelligent solle sein Film sein, sagte Monsieur Besson an der Pressekonferenz. Dies sei eine Herausforderung und seine einzige Sorge in den letzten fünf Jahren gewesen. „Ich glaube jedoch, dass ich meine Ziele erreicht habe“, gab Besson selbstbewusst zu Protokoll. Doch der Film ist leider weder witzig noch intelligent, nicht einmal schnell – höchstens schnell geschnitten – und die 89 Minuten kommen einem quälend lange vor. Die gelassene Attitüde kann sich Besson dennoch erlauben. In den USA hat der Film bereits am Startwochenende seine Produktionskosten wieder eingespielt. Davon beeindruckt, sagte eine französische Journalistin an der Pressekonferenz, die Filme der Grande Nation hätten es doch sonst immer so schwer in den USA, Bessons Filme seien da eine Ausnahme. „Wissen Sie, die Herkunft spielt bei den amerikanischen Studios keine Rolle“, antwortete Besson süffisant. „Das was zählt, sind der Inhalt des Drehbuches und die Ideen“. Und meinte dabei wohl sich selber.

Lucy

So sieht also eine Sternstunde der Erleuchtung im Hirne Bessons aus: Man nehme als Basis die Möglichkeiten, die der Mensch hätte, wenn er 100% seiner Gehirnkapazität anzapfen würde. Objekt des Experimentes und Protagonistin des Films ist die amerikanische Studentin Lucy (Johansson), die es – aus welchem Grunde auch immer – nach Taipei, die Hauptstadt Taiwans, verschlagen hat. Dort bittet eine amouröse Bekanntschaft sie, einem Geschäftsmann einen Koffer mit unbekanntem Inhalt zu übergeben. Besagter Geschäftsmann, Mr. Jang, ist jedoch keine unbedeutende Nummer, sondern der Boss eines Taiwaneser Mafia-Syndikats und ein Bösewicht sondergleichen. Lucy wird sich gleich bei der ersten Begegnung übergeben, als sie mitbekommt, wie im Nebenzimmer ein sterbender Körper zuckt und ihr Jang mit blutverschmierten Händen und Schweisserbrille gegenübertritt. Inhalt des Koffers sind einige Beutel mit einem blauen, synthetischen Pulver: CPH4. Eine, so lernen wir im Laufe des Filmes, bei schwangeren Frauen in der 6. Schwangerschaftswoche natürlich vorkommende Substanz, die dem Fötus die Energie gibt, Knochen zu entwickeln. Für Jang und seinen Clan ist der Stoff in seiner synthetisierten Form eine Designer-Droge, welche „die Kids in Europa lieben werden“. Lucy, der von Jangs Schergen ein Beutel mit dieser Droge in den Magen implantiert wird, soll sie so präpariert nach Europa schmuggeln.

Bösewicht und Logik ausser Gefecht gesetzt

Doch zuerst wird die unbedarfte Amerikanerin noch ein bisschen gefoltert, wobei der Beutel verletzt wird und seinen Inhalt peu-à-peu freigibt. Die Droge hat nun die Auswirkung, dass Lucy einen immer höheren Prozentsatz der Gehirnkapazitäten anzapfen kann – und dadurch zur Superwoman wird: Sie kann in Sekundenschnelle Chinesisch lernen und alle wissenschaftlichen Forschungsarbeiten des an der Sorbonne in Paris lernenden Neurologen Professor Samuel Norman (Morgan Freeman) zum Informationszugang der im Hirn gespeicherten Informationen verarbeiten. Sie entwickelt übermenschliche Kräfte, kann Gegenstände durch Willenskraft bewegen und die Schwerkraft ausser Betrieb setzen.

Auch bei Bessons Drehbuch ist nun jegliche Logik ausser Gefecht gesetzt: Lucy flüchtet zu Professor Norman nach Paris, dicht gefolgt von Mr. Jang und seiner Entourage, und lässt in einem finalen Showdown in der Sorbonne-Universität Mr. Jangs Gefolgschaft an die Decke kleben. Sie absolviert, nachdem sie gegen 100% ihrer Gehirnkapazität anzapfen konnte, eine Zeitreise, in die Prähistorie und zurück, trifft auf Namensvetterin Lucy (deren 3,2 Millionen alte Knochen verbürgterweise 1974 in Äthiopien gefunden wurden) und wird zur Verblüffung der Anwesenden zuerst zu einer zähflüssigen, schwarzen, klebrigen Masse – die Lucys Wissen an die in der Sorbonne installierten Computer weitergibt – und danach zu Staub, bis nur noch die schwarz-roten Stöckelschuhe von Lucy alias Scarlet Johansson übrigbleiben – sowie eine SMS mit dem Text „Ich bin überall“. Bleiben werden höchstens Johanssons strahlend blaue Augen, kaum ihre – zumindest in diesem Film nicht vorhandene – Schauspielkunst. Eine Goldene Himbeere für diese Performance wäre ihr von Herzen zu gönnen.

Ballade über gescheiterte Existenzen

Diese zweifelhafte Ehre, als „Schlechteste Schauspielerin“ ausgezeichnet zu werden, hatte auch Melanie Griffith, anno 1992 für das Zweite-Weltkriegs-Drama „Shining Through“. Auf Griffiths Konto gehen jedoch auch ein Golden Globe und eine Oscar-Nomination für die 1988-er-Komödie „Working Girl“, sowie weitere Golden Globe-Nominierungen. Nun kam Melanie Griffith als Ehrengast ans Filmfestival Locarno, um die junge Regisseurin Rachel McDonald, mit ihrem ersten Kurzfilm „Thirst“ im Wettbewerb der „Pardi di domani“, zu unterstützen. „Ich bin hier, weil ich an Rachel glaube und den Film liebe, obwohl ich es hasse, mich selber auf der Leinwand zu sehen“, sagte Griffith nach der Filmvorführung. „Ich will Rachel dabei unterstützen, viele Filme zu machen. Leider führen bei nur zwei Prozent der Filme Frauen die Regie. Ich möchte Regisseurinnen ermutigen, weil es einfach zu wenige gibt. Zudem sind Frauen feinfühliger darin, Schauspieler zu führen.“ Regisseurin MacDonald, die vor ihrem Kurzfilmdebüt als Produktionsassistentin bei einigen grossen Blockbuster-Filmen wie „Indiana Jones“ und „Transformers“ gearbeitet hatte, gab das Kompliment zurück. „Die Schauspieler in meinem Kurzfilm haben den Film mit dem gleichen Respekt behandelt wie sie es bei einem grossen Filmprojekt tun würden. Das Wunderbare bei grossartigen Schauspielern ist, dass sie so engagiert ihr Handwerk ausüben und ihre Charaktere erforschen, dass sie ehrlich und glaubhaft wirken. Wenn man diese Ehrlichkeit fühlt, kommt die Geschichte in Schwung.“

© Melanie Griffith an der Pressekonferenz
© Melanie Griffith an der Pressekonferenz

„Thirst“, einer Art Ballade über gescheiterte Existenzen, merkt man diese Ehrlichkeit an. Billy (Josh Pence) sieht keinen Sinn im Leben und ist kurz davor, sich umzubringen. Im letzten Moment entscheidet er sich dagegen und nimmt einen Job als Aushilfskellner in einer heruntergekommenen Bar an. Dort findet er unter den Stammgästen Barmherzigkeit und Gemeinschaft. Vor allem die verwelkte Schönheit Sue (Melanie Griffith), Alkoholikerin und Gelegenheitsprostituierte, gibt ihm neue Inspiration für die ersten zögerlichen Schritte zu neuem Lebenssinn. „Mein Leben fühlte sich sinnlos an, bis mich jemand brauchte“, sagt Billy im Film. Es ist ein kleiner, feiner Film über die Auswirkungen, die ein kleines bisschen Barmherzigkeit auf andere Menschen haben kann. Griffith spielt die Rolle der Sue, die „jeden morgen aufwacht und gar nichts fühlt“, mit allen Facetten ihres Könnens. Ganz nah zoomt die Kamera auf das vom Leben und den Alkoholkonsum gezeichnete und wohl auch durch einige Operation nicht gerade vorteilhaft aufgebesserte Gesicht von Sue und in diesem Moment hat man das Gefühl, dass Rolle und Schauspielerin verschmelzen. Griffith gab denn in Locarno auch freimütig zu: „Ich bin eine Alkoholikerin, welche die Sucht überwunden hat. Diese Rolle war eine grosse Herausforderung für mich, aber eine gute Möglichkeit, den Alkoholismus ein für allemal aus meinem Körper, meinem Geist und meiner Seele zu verbannen“.

Melanie Griffiths Versagensängste und Mutterstolz

Eine Rolle bei Alkohol- und Drogenkonsum mögen auch Versagensängste sowie die Art und Weise, wie Hollywood mit Schauspielerinnen ab einem gewissen Alter umgeht, gespielt haben. „Jedes Mal, wenn ich zur Arbeit gehe, habe ich grosse Angst. Ich habe auch jetzt immer noch dieses Gefühl: Oh mein Gott, kann ich das wirklich. Das ist ein beängstigendes Gefühl. Jedoch ist es etwas wirklich Schönes, wenn man dann am Set ist und etwas wirklich Tolles bei der Arbeit herauskommt“, erzählte Griffith. „Und ja, wenn man in Hollywood die Altersmarke von 40 Jahren überschritten hat, geht man durch eine Periode, in der man die Rollen nicht mehr erhält, an die man sich gewöhnt hatte. Ich habe in jener Zeit meine Kinder grossgezogen und jetzt bin ich so alt, dass ich einen bestimmten Punkt überschritten und wieder genügend Arbeit habe. Ich habe einige Filmprojekte und im Januar werde ich am Broadway im Musical ‚Pippin‘ spielen,“ verriet Griffith. Auf ihre Tochter Dakota Johnson (aus der Ehe mit Don Johnson), die bald in der „50 Shades of Grey“-Verfilmung in der Hauptrolle zu sehen sein wird, ist Melanie Griffith besonders stolz: „Sie ist besser als ich und meine Mutter (die durch die Hitchcock-Verfilmung „Die Vögel“ bekannt gewordene Tippi Hedren, Anm. d. Red.). Sie hat all die Fehler, die ich gemacht habe und all das, was mit meiner Mutter geschehen ist, gesehen und sie ist ein wirkliches Naturtalent. „50 Shades of Grey“ werde ich mir jedoch nicht ansehen, das werde ich mir nicht antun. Aber ich werde all die Kritiken darüber lesen“. Sagte es und schwirrte ab nach Sizilien – zu einem weiteren Filmset ihrer Tochter.

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