Fjodor Dostojewski „Schuld und Sühne“ | Luzerner Theater

Zwischen Moral und Wahnsinn

Fjodor Dostojewski „Schuld und Sühne“ | Luzerner Theater

Schuld und SŸhne

Das Luzerner Theater zeigt mit Fjodor Dostojewskis „Schuld und Sühne“ einen der bekanntesten russischen Romane in einer kräftezehrenden Inszenierung. Es geht um die verrohte Gesellschaft, Moral, Verbrechen, Schuld, Erkenntnis, Bekenntnis, Geständnis und Strafe. Und um die Liebe.

Von Mona De Weerdt.

Schuld und Sühne, der bekannteste Roman Dostojewskis, ist eine meisterlich erzählte Kriminalgeschichte, nach Thomas Mann „der grösste Kriminalroman“ aller Zeiten. Er ist das vollendete Psychogramm eines Mörders, der alle Stufen der Selbstrechtfertigung durchläuft, um am Ende durch die Liebe einer Frau bekehrt zu werden. Die Regisseurin Barbara David-Brüsch nahm sich diesem monumentalen russischen Werk an und bringt es in der vielbeachteten Neuübersetzung „Verbrechen und Strafe“ von Swetlana Geier in einer grösstenteils gelungenen, jedoch etwas zu lang geratenen, Inszenierung auf die Bühne des Luzerner Theaters.

Das Material und die Auserwählten
Rodion Romanowitsch Raskolnikowa (Gastschauspieler Christoph Gawenda), ein verarmter Jurastudent, ist von der Idee besessen, dass es dem „grossen“ Menschen erlaubt sei, „lebensunwertes“ Leben zu vernichten, um „lebenswertes“ zu erhalten. Er begeht einen Doppelmord an einer Pfandleiherin (Wiebke Kaiser) und ihrer Schwester (Bettina Riebesel), um mit dem geraubten Geld sein Studium zu finanzieren. Doch auf die Tat folgt der psychische und physische Zusammenbruch und es wird evident, dass der Verstand, der die Tat gelenkt hat, nicht die einzige Schicht der menschlichen Persönlichkeit ist. Es dauert nicht lange, bis Raskolnikowa unter Verdacht gerät und in einem anstrengenden Verfahren verhört wird.

Schuld und Sühne

Zwischen Faszination und Ekel vor der eigenen Tat
Die acht Schauspieler treten nacheinander auf, gehen nervös auf der Bühne umher und sprechen den inneren Monolog der Hauptfigur Raskolnikowa. Es wird auf den geplanten Mord angespielt, der gegenüber Raskolnikowa zwischen Faszination Ekel schwankt. Diese Überlagerung der Stimmen verleiht dem Studenten bereits in der Planungsphase des Mordes etwas Schizophrenes und Neurotisches. Aus dem Gewühl von Stimmen, die Raskolnikowas Gewissen repräsentieren, lösen sich unmittelbar einzelne Figuren heraus und wechseln in eine andere Rolle. Aus dem Knoten von Figuren löst sich dann auch ein Erzähler heraus, welcher das ganze Geschehen strukturiert und zugleich eine kommentierende Funktion einnimmt. Doch leider beschränkt sich dieses epische Moment nur auf eine kurze Szene und wird nicht konsequent durchgezogen. Genau das hätte aber dem ganzen Bühnengeschehen Struktur und Klarheit verliehen. Aber der Regisseurin ging es wohl gar nicht darum, das Bühnengeschehen zu strukturieren, vielmehr sollte die Verzweiflung, das Elend und die Aufgeregtheit der Figuren durch Chaos und Tumult aufgezeigt werden.

Wasser als bühnenfremdes Element und besondere Herausforderung
Eine besondere Herausforderung an die Schauspieler stellte die fast gänzlich mit bis zu knöchelhohem Wasser gefüllte Bühne dar. Die Schauspieler standen während zwei Stunden im Wasser, fielen immer wieder hin und waren die meiste Zeit einfach nur tropfnass. Und die wasserdurchtränkten Kleider und nassen, herunterhängenden Haare verstärkten das Bild des Elends sowie der Trostlosigkeit der Figuren zusätzlich.

Eine weitere Herausforderung bestand in dem schnellen Rollenwechsel. Die meisten Schauspieler besetzten mehrere Rollen und mussten oft blitzschnell die eine, dann wieder die andere Figur verkörpern. Dadurch wirkte das Ganze zuweilen etwas verwirrend und unübersichtlich. Dass alle Figuren lange komplexe Namen tragen, die im Russischen meist in voller Länge ausgesprochen werden, machte das Ganze noch komplexer. Doch genau dieses formal verwirrende Moment, der schnelle Rollenwechsel, die Nervosität und die allgemeine Aufgeregtheit des Stücks passen zur Verwirrung auf der narrativen Ebene und der Verwirrung der Figuren. Den Schauspielern gelingt der Wechsel von der einen in die andere Rolle bemerkenswert gut. Die Hauptfiguren sind interessant gezeichnet, ambivalente, facettenreiche und vielschichtige Figuren.

Schuld und Sühne

Aufatmen lassen
Im zweiten Teil des Stücks dominieren die Gewalt und die Brutalität, es wird geschubst, beleidigt, gespuckt, verhöhnt, an die Wand geknallt. Es kommt zu vielen skandalträchtigen, lauten und tumulthaften Szenen, die sich im St. Petersburger Milieu Mitte des 19. Jahrhunderts abspielen. Die ruhigste und intimste Szene ist dann jedoch die stärkste und berührendste. Der Moment nämlich, in dem die blutjunge Prostituierte Sonja (Daniela Britt) Raskolnikowa erschöpft in die Arme sinkt, die beiden im Wasser engumschlungen, atmend innehalten. Und spätestens hier wünscht man sich, die Regisseurin hätte den Mut gehabt, mehr auf solche ruhigen Szenen zu setzen, damit die Schauspieler und die Zuschauer einen Moment lang hätten aufatmen können. Während dieser eben beschrienen, andächtigen Szene wird das Licht gedämpft, die Musik wirkt unterstützend und schafft mit dem von der Decke tropfenden Regen, welcher ins Wasserbecken plätschert eine sphärisch-mystische Stimmung. Doch schon im nächsten Moment löst sich das Ganze wieder in Tumult auf. Gänzlich verzichtet hätte dann auch auf die angestrengt komische Clownerie werden können, denn diese funktionierte nicht und kam beim Publikum nicht an.

Verwirrung und Delirium
Der Fokus der Inszenierung liegt auf dem seelischen Innenleben des Protagonisten. Die ganze Inszenierung ist geprägt von einer fiebrigen Atmosphäre, von Raskolnikowas zunehmenden Verwirrung, der Paranoia und der Nervosität. Er oszilliert zwischen der Angst, als Mörder entlarvt zu werden und dem Wunsch, sich zu stellen, damit das Ganze ein Ende hat. Der Zuschauer wird während der Dauer der Inszenierung dazu eingeladen „durch die nervösen Augen Raskolnikowas auf die Welt zu blicken“ wie es der verantwortliche Dramaturg Bernd Isele formulierte. Raskolnikowa erkennt irgendwann verzweifelt, dass der Weg aus seiner Vereinsamung nur über Geständnis und Strafe als Sühne führt. Am Schluss steht sein Geständnis. Abrupt bricht es aus ihm heraus und dennoch klar und deutlich. Dann fällt der Vorhang. Zurück blieben ein begeistertes Premierenpublikum, das seine Begeisterung durch lautstarken Beifall und Bravorufe äusserte, und acht tropfnasse und sichtlich erschöpfte Schauspieler.


Besprechung der Aufführung am 08. April 2010
Weitere Vorstellungen am 11., 14., 29. April, 7., 9., 26. Mai und 5., 9. Juni 2010.

Besetzung
Christoph Gawenda, Daniela Britt, Wiebke Kayser, Thomas Douglas, Manuel Kühne, Heiko Pinkowski, Bettina Riebesel, Samuel Zumbühl

Regie: Barbara David-Brüesch
Dramaturgie: Bernd Isele
Bühne: Damian Hitz
Kostüme: Heidi Walter
Musik: Gaudenz Badrutt und Christian Müller
Licht: David Hedinger

Dauer: 140 Minuten inkl. Pause

Im Netz
www.luzernertheater.ch


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Der Autor Fjodor Michailowitsch Dostojewski
Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821-1881) stammt aus einer kinderreichen, aber verarmten Adelsfamilie. Nachdem er an der Militärakademie Bauingenieur studiert hatte, quittierte er 1844 seinen Dienst, um als freier Schriftsteller zu arbeiten. 1846 lernt er den Sozialrevolutionär Michail Petraschewski kennen und beginnt sich im linksgerichteten, militanten Milieu zu aktivieren. Die Polizei sprengt den Zirkel und Dostojewski wird wegen „staatsfeindlicher Aktivitäten“ verhaftet und zum Tode verurteilt. Durch die Begnadigung des Zar Nikolaus I wird das Todesurteil in eine mehrjährige Zwangsarbeit in Sibirien mit anschliessendem Militärdienst umgewandelt. Die Haft erweist sich als Qual, hier erleidet Dostojewski zum erstenmal epileptische Anfälle, welche ihn fortan begleiten und ihm das Leben erschweren. Als er 1859 nach St. Petersburg zurückkehrt veröffentlicht er seine Erinnerungen an die schrecklichen Jahre in Haft unter dem Titel „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“. Dostojewski gründete zusammen mit seinem Bruder die Zeitschrift Wremja (Die Zeit), um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen und um sich aktiv am kulturellen Leben zu beteiligen. Die Zeitschrift war aufgrund ihres ideologischen Programms und literarischen Niveaus äusserst erfolgreich. Doch dann entzog ihm die Zensur aufgrund eines als polenfreundlichen missverstandenen Artikel die Existenzgrundlage für die Zeitschrift. Zwar gelang es Dostojewksi die Genehmigung für ein eine zweite Zeitschrift zu erlangen, doch in einer Zeit des „allgemeinen Zeitschriftensterbens“ konnte er sie trotz guter Mitarbeiter nicht lange halten. 1864 starb seine Frau und völlig überraschend auch sein Bruder, Dostojewski gab die Zeitschrift auf. Verschuldet floh er dann nach Wiesbaden, wo er die Arbeit an seinem Roman Schuld und Sühne aufnahm.

Der Roman Schuld und Sühne
Schuld und Sühne ist ein Kriminalroman und gleichzeitig eine kunstvoll komponierte Milieu- und Gesellschaftsstudie des Petersburger Lebens Mitte des 19. Jahrhunderts. Er gehört zu den bekanntesten und erfolgreichsten Werken Dostojewskis und zu den bekanntesten Werken der russischen Literatur überhaupt.

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Die Regisseurin Barbara David-Brüesch
Die Schweizerin Barbara David Brüesch wurde 1975 in Chur geboren. Sie absolvierte ein Regiestudium an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin. Es folgten Inszenierungen an renommierten Häusern wie dem Stadttheater Bern, dem Theaterhaus Gessnerallee und dem Theater am Neumarkt in Zürich und szenische Lesungen in der Baracke des Deutschen Theaters und an den Werkstatttagen am Burgtheater. Seit 2006 inszeniert David-Brüesch regelmässig am Schauspielhaus Wien, am Staatstheater Mainz sowie auch am Staatstheater Stuttgart.


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