„Ajami“ von Scandar Copti & Yaron Shani

Es geht immer um die Familie

„Ajami“ von Scandar Copti & Yaron Shani

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Ein Film, bei dessen Dreh die Schauspieler das Drehbuch nicht gekannt haben. Ein Film, bei dem die Schauspieler eigentlich auch gar keine Schauspieler waren. Ein Film, bei dem die Wahrheit relativ ist, weil es immer noch eine zweite Kamera gab. Das ist „Ajami“.

Von Sandra Despont.

Mit „Ajami“ haben Scandar Copti und Yaron Shani israelische Filmgeschichte geschrieben. Dass ein arabischer Christ und ein Jude zusammen einen Film drehen, und dann noch grösstenteils in Arabisch, ist an sich schon keine Selbstverständlichkeit. Wenn diese beiden dann auch noch eine brisante Gesellschaftsanalyse wagen, ohne dabei plakativ den Konflikt zwischen jüdischen und arabischen Israeli auszuschlachten, dann ist das unüblich. Und wenn dieser Film dann auch noch über eine aussergewöhnliche Realitätsnähe verfügt, ohne aufzuhören, ein Spielfilm zu sein, ja dann wird dieser Film schon mal für die Oscars nominiert.

In medias res – In dreissig Sekunden

Bevor man es sich gemütlich machen, bevor man sich langsam in den Film einfinden, bevor man sich mit den Charakteren geruhsam anfreunden kann, ist man auch schon mitten in der Handlung von „Ajami“. Versehentlich wird der Nachbar Omars auf offener Strasse erschossen. Er war gerade dabei, an dem Auto herumzubasteln, das bis vor Kurzem noch Omar gehört hat. Es ist klar: eigentlich hätte Omar getötet werden sollen. Sein Onkel hat nämlich ein bekanntes Clanmitglied verletzt, als dieses Schutzgeld erpressen wollte. Die Tötung Omars sollte Teil der Racheaktion gegen die Familie des Onkels sein. Nur mit einer immensen Geldsumme könnte sich Omars Familie freikaufen, sonst wird die ganze Familie ausgelöscht. Denn, so macht der Vermittler Abu Elias klar: Die Mörder des Nachbarn wollen töten. Ob Omar eine persönliche Schuld trifft, ist ihnen egal.

120 Minuten irrationale Gewalt

Die ersten Szenen „Ajamis“ setzen den Massstab für die folgenden 120 Minuten. Brutale, irrationale Gewalt in einer Welt, von der der Lack der Zivilisation in grossen Stücken abbröckelt, und die verzweifelte Suche nach einer Möglichkeit, Geld zu verdienen, um existentielle Probleme zu beseitigen, sind zentrale Themen des Films. Dazwischen fehlt es nicht an intimen Momenten der Nähe zwischen einzelnen Figuren, doch angesichts der Realitäten, seien diese nun politischer oder religiöser Art, sind Ideen von Freundlichkeit und Versöhnung jammervolle Gestalten. Mit einer zarten Geste wird etwa die Liebe zwischen Omar und Hadir, Abu Elias’ Tochter, eingeführt. Doch auch über dieser Liebe liegt der Fluch „Ajamis“, eines Viertels in Jaffa, der ein Schmelztiegel der Kulturen genannt werden kann. Ein Schmelztiegel, der zeigt, dass das Neben- und Miteinanderleben auf engstem Raum nicht unbedingt zur Überwindung von Vorurteilen und Barrieren in den Köpfen führen muss.

© Studio / Produzent
© Studio / Produzent

Ein zweistündiger Gewaltexzess ist „Ajami“ keineswegs. So oft wird nicht geschossen, so viele Menschen sterben nicht. Der Eindruck der unglaublichen Gewalttätigkeit entsteht vor allem durch die fast ausgefallene dokumentarische Drehweise, der sich Scandar Copti und Yaron Shani bedient haben. Angefangen beim Casting sind die beiden Filmemacher getreu nach dem Motto vorgegangen, dass „Realität stärker und interessanter sein kann als Imagination“. Sämtliche Schauspieler sind Laiendarsteller und alle kommen sie aus den Häusern und Strassen der Umgebung, in der „Ajami“ spielt. Während eines 10-monatigen Schauspielworkshops mit mehr als 300 Teilnehmern haben sie sich zu den Figuren entwickelt, die in „Ajami“ porträtiert werden. Und damit nicht genug. Statt ein Drehbuch in die Hand gedrückt zu kriegen, Texte auswendig zu lernen und stupide einem Drehplan mit unzähligen Szenenwiederholungen zu folgen, liessen die Filmemacher auch während des Drehs die Realität die Oberhand behalten.

Die Quadratur des Kreises – oder: wie man ohne Drehbuch mit Drehbuch dreht

Wahrhaftigkeit wollten Scandar und Yaron erreichen. Ihre Schauspieler sollten ihre Figuren nicht spielen, sondern sie leben. Sie sollten zwar handeln, wie es im Drehbuch steht, sagen, was im Drehbuch steht, doch ohne dieses Drehbuch zu kennen. Deshalb war es die Hauptaufgabe der Regisseure, die Schauspieler in bestimmte Gemüts- oder Bewusstseinszustände zu versetzen und dazu zu bringen, die Kameras zu vergessen und so zu agieren, wie sie das in Wirklichkeit täten. Ohne Proben wurden die Szenen gespielt, logischerweise in chronologischer Abfolge, damit die Schauspieler ganz bei ihren Figuren, deren Entwicklung und in ihrer Geschichte waren. Deshalb ist in „Ajami“ vieles echter als in konventionellen Filmproduktionen. Als Zuschauer überkommt einen mehr als einmal das beklemmende Gefühl, intimen Szenen beizuwohnen, Situationen und Gefühle zu erleben, die zu privat sind, als dass man sie beobachten könnte, ohne dabei voyeuristisch zu sein. So etwa, als einer jüdischen Familie mitgeteilt wird, dass der verschwundene Sohn tatsächlich tot ist. Die Szene, die sich daraufhin abspielt, hat nichts mit hollywoodschen Trauerbezeugungen gemein. Sie wirkt, ja, eben echt.

Vom kurzen Drehen und vom langen Schneiden

Da keine Szene, wenn nicht unbedingt notwendig, wiederholt wurde, und nur genau eine Schlüsselszene einer klassischen Drehart folgte, war der Dreh selbst eine Kleinigkeit. In 23 Tagen war die Hauptsache im Kasten. Viel schwieriger war der Schnitt. Wie beim Schnitt eines Dokumentarfilmes mussten zahlreiche Stunden Filmmaterial ausgewertet und an die Vision der Filmemacher angepasst werden. Denn obwohl die Szenen chronologisch gedreht wurden, werden sie im Film keineswegs chronologisch präsentiert. Die komplexe Erzählstruktur legt Zeugnis davon ab, wie gut durchdacht „Ajami“ letztlich ist. Und die Erzählweise passt wie die Faust aufs Auge. Auch als Zuschauer wird man Teil der Realität „Ajamis“. Die abrupten Szenenwechsel lassen einen nie in Hollywood-Sehgewohnheiten mit tief im Sessel sitzenden Popcornmampfen verfallen. Die dokumentarische Drehweise schafft eine grosse Nähe zu Figuren und Ereignissen, die schnellen Schnitte und der vorwärts drängende Schwung vieler Szenen ziehen einen zusätzlich in die Filmrealität hinein, so dass man als Zuschauer kaum unbeteiligt bleiben kann.

Brücke zwischen Doku und Action

Gleichzeitig vergisst man keine Minute lang, dass man es hier mit einem künstlerischen und komplex konstruierten Produkt zu tun hat, denn gleichsam als Brücke zwischen dokumentarischer Drehweise und Spannungskino werden nicht nur Chronologien, sondern auch Blickwinkel durcheinander gewirbelt. Als Zuschauer kann man erst mit der Zeit Ereignisse, Beziehungen zwischen Figuren und Handlungsmotivationen richtig rekonstruieren. Dass einige Szenen doppelt, jeweils aus unterschiedlichen Kameraperspektiven gezeigt werden, macht einerseits die Subjektivität jeden Erlebens deutlich und führt andererseits dazu, dass die Idee von der Handlung immer wieder korrigiert werden muss. Dieser Kunstgriff, der in geringem Mass häufig, exzessiv etwa in Filmen wie „Memento“ oder „Babel“ verwendet wurde und wird, lässt in „Ajami“ auch danach fragen, ob es eine objektive Wirklichkeit tatsächlich geben kann und inwiefern wir und unsere Handlungen von unserem Blickwinkel – im tatsächlichen wie im übertragenen Sinne – geprägt sind.

Gesellschaftspanorama

Nach und nach rollen Copti und Shani, begonnen mit der Geschichte Omars, ein ganzes Panorama der Gesellschaft im Stadtviertel Ajami vor den Augen der Zuschauer aus. Der Schwerpunkt liegt zwar bei den mehrheitlich muslimischen, israelischen Arabern liegt, doch mit Abu Elias wird auch eine christlich-arabische und mit dem Polizisten Dando eine jüdische Familie eingeführt. Immer wieder sind Nähe und Distanz ein Thema, etwa wenn der christliche Vater und Arbeitgeber Omars zu der Liebschaft zwischen seiner Tochter und dem Muslimen Omar Stellung beziehen muss oder wenn Binj, der aus einer palästinensischen Familie stammt, quasi zum Feind überläuft, indem er plant, mit seiner jüdischen Freundin zusammenzuziehen und seine Freunde so in einen tiefen Loyalitätskonflikt stürzt.

Die Familie als Verpflichtung und Rückzugsort

Dreh- und Angelpunkt für die Konflikte der Figuren und letztlich auch Ausgangspunkt für Verbrechen und Gewalt ist aber immer wieder die Familie. Ob Omar verzweifelt nach einer Möglichkeit sucht, sich und seine Familie freizukaufen, ob Malek, ein palästinensicher Teenager aus einem Flüchtlingslager der Westbank, der illegal in Israel arbeitet, überlegt, wie er Geld für die Operation seiner schwer kranken Mutter beschaffen kann, ob Dando angesichts des Verschwindens seines Bruders versucht, mit eigenem Verlust und der Trauer seiner Eltern klar zu kommen – es geht, wie Abu Elias sagt, letztlich „immer um die Familie“. Die Figuren handeln allesamt in einem höchst gesellschaftlichen, durch die Macht des Blutes geprägten Kontext. Als Individuen sind sie kaum greifbar. Ihre Sehnsüchte und Wünsche sehr effizient von Familienstrukturen, Verpflichtungen und  Abhängigkeiten kontrolliert. Gleichzeitig wird die Familie aber auch als Rückzugsort und Schutzraum gezeigt. Ein Raum, der nur allzu oft von der einbrechenden und oft brutalen Wirklichkeit bedroht, wenn nicht gar zerstört wird.

Der vielfach preisgekrönte „Ajami“ ist ein faszinierender Film, der sich allein schon durch seine spezielle Machart von der Masse der Filmproduktionen abhebt. Er bietet einen Blick in eine zerrissene Gesellschaft und zeigt im Kleinen des Stadtviertels Mechanismen von Bedürftigkeit, Verbrechen und Gewalt auf – und das aus mehreren Winkeln, aus verschiedenen Perspektiven, in einer überlegten, packenden Komplexität.


Ab dem 19. August 2010 im Kino.

Originaltitel: Ajami (Israel 2009)            
Regie: Scandar Copti & Yaron Shani
Darsteller: Shahir Kabaha, Ibrahim Frege, Fouad Habash, Youssef Sahwani, Ranin Karim, Eran Naim, Scandar Copti, Elias Sabah, Hilal Kabob, Nisrin Rihan, Tami Yerushalmi, Moshe Yerushalmi, Sigal Harelv, Abu-George Shibli
Genre: Drama
Dauer: 120 Minuten
CH-Verleih: Trigon

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