Tanja Weber: „Sommersaat“

Besser als ein Pageturner

Tanja Weber: „Sommersaat“ (Kriminalroman)

In ihrem ersten Kriminalroman um den Postboten Stifter und den bayrischen Kommissar Thalmeier enttarnt Tanja Weber eine Dorfidylle, zeichnet mit wenigen Worten selbst von Nebenfiguren Porträts mit scharfen Konturen und begeistert mit zwei eigentümlichen Protagonisten.

Von Sandra Despont.

sommersaatSinuskurve. Und das schon im allerersten Satz. Oje, oje, wenn ein Briefträger keine einfachen Biegungen mehr fährt, sondern Sinuskurven, dann kann man sich auf etwas gefasst machen… Will hier eine Autorin ihren Bildungsbürgertumswortschatz vor uns ausbreiten? – Aber nein. Weit gefehlt! An unserem Pöstler liegts, denn der hat einige Semester Philosophiestudium hinter sich und eine akademisch genaue Ausdrucksweise damit voll drauf! An der Sinuskurve ist also alleine er schuld. Und nicht nur daran, sondern auch an der erfreulichen Ernsthaftigkeit und Tiefe dieses Kriminalromans.

Ein Männlein liegt im Walde

Ein Männlein, steht, nein, liegt im Walde von Germerow, einem trostlosen, sich aus zwei grösseren planierten Strassen und zahlreichen Bausünden aus der DDR-Zeit zusammensetzenden Ort in Brandenburg. Stumm ist das Männchen auch, denn man hat ihm den Schädel so eingedroschen, dass ausser blutigem Matsch kaum noch etwas übrig ist. Das Männlein heisst Walter Demski, genannt Micha. Einer, dessen Leben mit dem Wort Totalabsturz am besten gefasst werden kann, der zu Lebzeiten Frau und Kinder terrorisiert und geprügelt hat, einer auch, der in der Zeit vor seinem Tod plötzlich als Fahrer von Luxuskarossen zu sehen war. Und einer, dem man nun auf äusserst brutale Weise ein Ende gesetzt hat. Der Anfangsverdacht fällt auf den Entdecker der Leiche, den Postboten Johannes Stifter, doch bald wird klar: In diesem unscheinbaren Dorf in Brandenburg ist nicht nur der Briefträger ein etwas seltsamer Kerl, hier haben auch noch einige andere Leute etwas zu verbergen.

Bayer, Bulle, sympathischer Mensch

Voilà, die Leiche hätten wir, skurril geschmückt mit Blümchen, die der mongoloide Sonny in seinem unschuldigen Spiel sorgfältig zu einem lächelnden Mund arrangiert hat. Und hier ist auch schon der Ermittler: Thalmeier, seines Zeichens alter Sack, Wessi, und, das Schlimmste, Bayer. Sein Markenzeichen: Ein Strickjanker, den er trotz Hitze mit grosser Sturheit ständig übergezogen hat, selbst wenn ihn dieser Janker schon einmal an den Rand einer Ohnmacht treibt und sein Kollege Galicek ihn deswegen als armen Irren und als „du Bayer du!“ beschimpft. Gemütlich, mitfühlend, schlau, und vor allem müde bewegt er sich durch die Landschaft Brandenburgs, in die er geflohen ist, um Vergessen zu können. Während der Aufklärung des Falls in Germerow trifft er auf eine Figur, die ebenso skurril und liebenswert ist wie er selbst: Johannes Stifter, ein Postbote, der zweiundzwanzig Semester Philosophie studiert hat und nun seit zehn Jahren mit dem Verfassen seiner Doktorarbeit befasst ist, hat in der brandenburgischen Einöde Germermows die Einfachheit und in der automatisierten, entfremdeten Arbeit des Ablesens und Einordnens von Post eine kontemplative, ihn in einen glücklichen Zustand versetzende Arbeit gesucht und gefunden. In Thalmeier findet er etwas, das er bisher für unvereinbar gehalten hat: Einen bayrischen Bullen, der zudem noch ein sympathischer Mensch ist. Beide ermitteln auf ihre Art und Weise und bloss punktuell treffen ihre Welten aufeinander. Doch auch ohne dass sich die beiden in die Arme fallen oder einander ihre Lebensgeschichte darlegen, wird deutlich, dass sich zwischen Postbote und Polizist ein leises Vertrauen anbahnt, das in einer Freundschaft enden könnte.

Germerow – totentwickelte Idylle

Und dann dieses Germerow: Ein Ort, in dem Kieswege pedantisch geharkt werden, in dem an einem Montagvormittag nur Alte und Hoffnungslose unterwegs sind. Alte und Hoffnungslose, die einander nicht helfen, weil sie genug mit sich selbst zu tun haben. Ein Ort mit Menschen, die sich früher einen bescheidenen Wohlstand zusammenbeobachtet haben und gewohnheitsmässig weiterbeobachten, ein Ort, an dem eine alleinstehende Mutter, Sozialhilfeempfängerin, dazu noch mit einem mongoloiden Kind, kaum auf Mitgefühl und Hilfe hoffen kann. Ein Ort, der zu DDR-Zeiten „totentwickelt“ wurde, mit einem Unterstand an der Bushaltestellte, der ein „Relikt aus der Hochzeit der Pfuschbauten“ ist. Ein Ort, an dem die Menschen unsichtbar in ihren Häusern hocken, aber plötzlich auftauchen, sobald es etwas zu sehen gibt. Eine Idylle, die nur so nach Enttarnung schreit.

Beharrliche Klugheit statt Zaubertricks

In diesem Germerow und in der Beschreibung seiner Menschen zeigt sich die Qualität von „Sommersaat“. Am Mordfall liegt es sicher nicht, dass man „Sommersaat“ mit Vergnügen liest. Es liegt sicher nicht an der spektakulären Ermittlungsarbeit von Thalmeier, denn der gemütliche Bayer setzt mehr auf beharrliche Klugheit als auf sensationelle Zaubertricks der Ermittlungskunst. Es liegt ganz bestimmt nicht an dem Verlangen, einen brutalen Mord aufgeklärt zu sehen, denn der tote Micha weckt, je mehr man über ihn erfährt, eher Abscheu und Verachtung, keinesfalls aber den Wunsch, seinen Mörder dingfest gemacht zu sehen. Nein, es ist eine ernsthafte, mitfühlende Weise, Orte und Figuren fassbar zu machen, die „Sommersaat“ vor anderen Kriminalromanen auszeichnet. Tanja Weber charakterisiert liebevoll, kritisch, humorvoll und immer unterhaltsam, changiert gekonnt zwischen verschiedenen Erzählperspektiven und zeichnet ihre Figuren handelnd, denkend und sprechend ungemein genau und anschaulich. Mit wenigen Sätzen führt einen Tanja Weber nahe an ihre Figuren heran und lässt einen hinter Fassaden blicken, ohne in Gefühlsduselei zu verfallen. So bringt sie etwa das Wesen eines Tatverdächtigen kurz und bündig auf den Punkt, indem sie feststellt, dass er „auch als Mann ein eher preiswerteres Modell“ gewesen sei, macht die Not eines sozial benachteiligten Jungen fast körperlich spürbar, dessen Leben als Loser vorgezeichnet ist, der sich nach Mama sehnt und es in seinen Gewaltphantasien als Monster im Kampfrausch allen zeigt, und Tanja Weber schafft mit dem bayrischen Bullen und dem philosophierenden Postboten zwei unglaublich sympathische, vielschichtige Figuren, denen man gerne folgt und von denen man nur zu gern mehr lesen möchte.

Kein Pageturner…

Wer von einem Kriminalroman spektakuläre Fälle erwartet, wer auf jeder Seite ungeduldiger auf die Lösung des Rätsels hinlesen, wer wie im Fieber die Seiten blättern will, ist bei „Sommersaat“ falsch, denn einen so genannten Pageturner hat Tanja Weber wahrlich nicht geschrieben. Zu langsam ist der Erzählrhythmus, zu viele Seiten verwendet sie auf die Beleuchtung von Hintergründen, zu sehr weicht sie von der strikten Konzentration auf Fall und Ermittlungsarbeit ab. „Sommersaat“ ist mehr Roman als Krimi und mag deshalb den Fans von actiongeladener Spannungsliteratur eher lahm und so gemütlich vorkommen wie der ermittelnde Kommissar.

…sondern etwas viel Besseres

Wer jedoch eine tiefe Figurenzeichnung, die sorgfältige Gestaltung einer Atmosphäre und unaufgeregte, präzise Prosa schätzt, der liegt mit „Sommersaat“ richtig. Hier ist der Weg das Ziel, und zwar in einem so hohen Mass, dass man, je länger man liest, desto mehr das Ende des Romans bedauert, noch bevor man es kennt. Denn das Ende bedeutet ein Abschied vom Wolljanker Thalmeiers und von dem philosophierenden Postboten Stifter. Es bedeutet, Figuren zu verlassen, die man lieb gewonnen hat und an deren Leben man Anteil nimmt. „Sommersaat“ ist kein Krimi, den man nach der Lösung des Falls als gelesen abhakt, im Büchergestell verschwinden lässt und nicht mehr hervornimmt, solange man sich noch daran erinnern kann, wer schlussendlich der Mörder war. „Sommersaat“ ist etwas viel Besseres, nämlich ein Buch, das die besten Elemente von Krimi und Roman in sich vereinigt und damit zu ernstzunehmender Literatur wird, die über blosse Unterhaltung hinausgeht.


Titel: Sommersaat
Autor: Tanja Weber
Verlag: Aufbau
Seiten: 350
Richtpreis: CHF 28.90

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