Das Streben nach Utopia

Das Streben nach Utopia

Über den Ursprung einer Idee

 

UnknownDas Streben nach Utopia, dem perfekten Lebensraum und der perfekten Gesellschaft hat im Verlauf der Moderne schon so einiges an Tinte, Druckerschwärze und ja, auch Blut gefordert. Doch was versteht man eigentlich unter Utopia? Ein Artikel über die Entstehung einer Idee.

 

Von Magdalena Pfaffl

Ist eine perfekte Welt möglich? Und wenn, wie sähe sie dann aus? Die Frage ist so aktuell wie sie alt ist. Sir Thomas More, englischer Gelehrter und bemerkenswerter Humanist, versuchte sich 1516 an einer Antwort. Es entstand ein Klassiker der Literaturgeschichte, der Sozialwissenschaften und der Philosophie: Utopia.

Die perfekte Gesellschaft

Die Gelehrten streiten sich bis heute über Mores Intentionen: Sollte seine Erzählung über den Inselstaat Utopia eine Vorlage für die perfekte Gesellschaft sein oder aber war sie vor allem eine Kritik an den Verhältnissen der englischen Gesellschaft seiner Zeit? Mores Vorschläge waren in jedem Fall ebenso radikal für damalige Verhältnisse wie für heutige. In seinem Utopia lebt eine devisenlose und gnadenlos sozial gerechte Gesellschaft: Alle Utopianer wohnen in vollkommen gleichen Häusern und tragen die vollkommen selbe Kleidung. Wenn es keinen materiellen Vorteil zu erwerben gibt – so der Konsensus – dann gibt es auch keinen Grund, sich zum Nachteil seines Nächsten zu bereichern.

Mores Utopia thematisiert dieselben Themen im Herzen der utopischen Gesellschaft, wie sie auch heute noch aktuell sind: Soziale Gerechtigkeit und die Korruption des Menschen durch materiellen Besitz. Doch Mores Einfluss ist nicht nur in den Sozialwissenschaften zu finden, sondern mit seinen detaillierten Beschreibungen von begrünten Innenhöfen und dezentralisierten Märkten inspirierte er auch die Gartenstädte des 20. Jahrhunderts.

Andere Bereiche seiner Erzählung sagen freilich mehr über die englische Gesellschaft seiner Zeit als über die Idee von Utopia aus. So widmet sich More etwa auf langen Seiten einer Reform des Strafrechts und beschäftigt sich mit der Verbesserung der Lebensumstände der Sklaven. Die utopischen Ideen von lebenslanger Zwangsarbeit statt dem gängigen Todesurteil für Diebe und Betrüger waren ein Skandal für ihre Zeit. Und wenngleich Frauen in Utopia selbstverständlich ihren Teil an der täglichen Arbeit leisten, so ist es für More doch selbsterklärend, dass die Jungen den Alten gehorchen – und die Frauen ihren Männern.

Gefährliche Ideen

Es lässt sich nicht mehr feststellen, welchen Anteil Mores unbequeme Ideen über die perfekte Gesellschaft an seinem eigenen Lebensende hatten. In jedem Fall fiel der Jurist und Parlamentarier nach seiner Weigerung, die Eheannullierung Heinrichs VII und die drauffolgende Abspaltung Englands von der Kirche mitzutragen, dem Richtschwert zum Opfer. Die katholische Kirche erklärte ihn zum Märtyrer und zum Heiligen. Es sollte nicht das einzige Blut bleiben das von Utopisten vergossen wurde.

Die Idee von Utopia ist so verlockend, wie sie gefährlich sein kann. Für Visionäre mag die Schaffung eines Utopia, einer perfekten Gesellschaft die einzige Möglichkeit zur Rettung der Menschheit vor sich selbst sein, doch weniger optimistische Zeitgenossen sehen in dem Sterben nach Utopia eine Gefahr für Freiheit und Gerechtigkeit. Während zum Beispiel utopische Bewegungen in der jüngeren Geschichte der Vereinigten Staaten, etwa New Harmony in Indiana, in der Regel nach wenigen Jahren oder Jahrzehnten unblutig zerfielen, gingen nicht alle utopischen Experimente so glimpflich aus. Der umfangreichste Versuch eine perfekte Gesellschaft zu schaffen, der Sozialismus und der eng mit ihm verbundene Kommunismus, endeten bekanntlich in Kriegen, Armut und Völkermord. Vor allem in angloamerikanischen Kreisen argumentiert man daher – nicht ganz unnachvollziehbar – dass der Utopianismus nicht nur gründlich gescheitert, sondern schlichtweg gefährlich ist.

Die Erschaffung des «neuen Menschen»

Im Herzen jeder utopischen Bewegung liegt eine Frage, die vielleicht so alt ist wie die Menschheit selbst: Nämlich die nach der Natur des Menschen und dem Einfluss, den sein Umfeld auf ihn ausübt. Utopisten glauben, dass der Mensch entweder im Grunde gut und nur von einer ungerechten Gesellschaft korrumpiert ist, oder zumindest dass der Mensch zwar einen natürlichen Hang zur Gewalt hat, durch eine sorgfältige (Um-)Erziehung aber zu einem besseren Charakter geformt werden kann. Utopisten träumen also von der Erschaffung eines neuen, besseren Menschen in ihren utopischen Gesellschaften. Scheitert eine Gesellschaft an der Erschaffung dieses besseren Menschen, so scheitert auch ihre Idee von Utopia. Und genau hierin liegt kurz gesagt das Scheitern aller bisherigen utopischen Experimente begründet: Der Mensch selbst scheint sich standhaft dagegen zu sperren, seine dunkleren Charakterzüge abzulegen.

Die Frage ist nun, ob die utopischen Experimente der Vergangenheit einfach nicht gut genug durchdacht waren. Zwei Erklärungsansätze dominieren den Diskurs: Zum einen sei eine utopische Gesellschaft zum Scheitern verurteilt, wenn die Gründergeneration selbst unbewusst materielles Denken und Gewalt in die neue Gesellschaftsordnung einschleppt. Womöglich ist die nachhaltige Schaffung einer utopischen Gesellschaft allerdings auch eine reine Frage der Geduld. Von bis zu drei oder sogar vier Generation ist die Rede. Das hieße, dass Kinder geboren werden deren Grosseltern nicht mehr von der alten Welt korrumpiert sind. Entspricht diese Annahme der Wahrheit, so wurden vergangene Versuche wurden womöglich schlicht zu früh aufgegeben.

Wir haben keine Antworten auf die Fragen von 1516

Ist Utopia möglich? Ist es schlicht eine Frage der Reife oder des Durchhaltewillens des Menschen? Und könnte der Mensch in einer utopischen Welt überhaupt glücklich sein oder gar überleben? In einer Welt, in der immer offensichtlicher wird, dass soziale Ungerechtigkeit und materialistische Exzesse uns als Gesellschaft nicht weiter bringen, stellen sich viele wieder diesem uralten Thema. Nicht nur durch Literatur und Film ist die Debatte über Utopia allgegenwärtig im gesellschaftlichen Diskurs des 20. Und 21. Jahrhunderts; Auf die Fragen von 1516 haben wir immer noch keine zufriedenstellenden Antworten gefunden.

Und doch, vielleicht weil es in der Natur des Menschen liegt nach Utopia zu streben bleibt diese Idee des 16. Jahrhunderts ein Potential für eine bessere und eine schlechtere Gesellschaft. Vielleicht gilt es hier, wie in vielen anderen Fällen, den Weg als das Ziel zu sehen; das Streben nach Utopia alleine kann uns neue Ansätze für unsere ganz normale Welt bescheren. Der Altmeister More selbst hat uns in dem Wort «Utopia» scheinbar einen Tipp hinterlassen: Phonetisch geschickt auf sowohl das griechische u-topia (nicht-Ort) als auch auf eu-topia (guter Ort) Bezug nehmend ist Utopia nämlich sowohl der gute Ort, als auch der, der überhaupt nicht existieren kann.

Literatur zum Thema:

Thomas More. Utopia. Diogenes Verlag. 2002.

Im Netz:

Aus dem nahaufnahmen-Archiv: «Mensch und Umwelt im Gleichgewicht – eine Utopie?» Von Stefan Schustereder

https://de.wikipedia.org/wiki/New_Harmony_(Indiana)

Im US Amerikanischen New Harmony existierten gleich zwei utopische Gesellschaften hinter einander – keine davon erlebte ihre zweite Generation. Ein Beispiel von vielen im 19. Und 20. Jahrhundert.

http://www.zeit.de/2013/14/utopien-utopia-thomas-morus

Philip Kovce von der Zeit mit einem fiktiven Reisebericht über Utopia

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert