Locarno – Internationaler Wettbewerb

Monsieur Pères Kuriositätenkabinett

63. Festival del film Locarno – Internationaler Wettbewerb

"Bas-Fonds"
"Bas-Fonds"

Über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten, über Langeweile nicht: So gab es denn in den ersten Festivaltagen einige pseudo-philosophische Filme zu überstehen, welche die Nerven des Berichterstatters arg strapazierten. Da half es auch nichts, dass der neue künstlerische Direktor Olivier Père diese nichtssagenden Machwerke in den höchsten Tönen als „Filme des Jahrzehnts“ anpries. Der überragende Schweizer Beitrag „La petite chambre“ sowie ein sechsstündiger Monumental-Dokumentarfilm aus China retteten schliesslich den kränkelnden Wettbewerb.

Von Christoph Aebi.

Das gab es bisher noch nie in Locarno: Ganze drei Wettbewerbfilme waren mit dem Vermerk versehen, sie seien für Zuschauer unter 18 Jahren verboten, beim Eingang würden Ausweiskontrollen durchgeführt. Gemutmasst werden darf, wieso der neue künstlerische Direktor Olivier Père diese drei Filme für den Wettbewerb selektionierte. Wollte er ein kleines Skandälchen provozieren? Den wahren Grund wird die Welt wohl nie erfahren, da Herr Père für ein Interview nicht verfügbar war. Bereits die Lektüre der Inhaltsangaben im in diesem Jahr handlich aufgemachten (dafür weniger informativen) Festivalkatalog liess eine dunkle Vorahnung aufkommen. „Bas-Fonds“ der Französin Isild le Besco handle von drei jungen Frauen „am Rand der Zivilisation. Dem Alkohol ergeben, begehren sie sich, haben Sex, stossen sich wieder weg – in einem zunehmend komplexen Spiel um Macht und Liebe. (…) Eines Tages überfallen sie aus Langeweile und angestiftet von Magalie eine kleine Bäckerei und töten den Bäcker mit einer Schrotladung.“

Auch die Beschreibung von „L.A. Zombie“ des für seine kontroversen Filme bekannten Kanadiers Bruce LaBruce tönte kaum vielversprechender: „Ein ausserirdischer Zombie steigt aus dem Pazifischen Ozean. Nachdem er in den Bergen von einem Surfer in einem Laster aufgegabelt wird, geschieht ein schwerer Unfall, und der Surfer liegt tot auf der Strasse. Der Zombie fickt den Toten zurück ins Leben. (…) Als eine Art schwarzer Erlöser stösst der Zombie im Grossraum Los Angeles auf eine ganze Reihe Toter und fickt auch diese alle zurück ins Leben. Als die Kreatur schliesslich die harte Lebensrealität in L.A. nicht länger aushält, findet er Trost in einem Friedhof, wo er beginnt, ein frisches Grab auszugraben.“ (Zitate aus dem Festivalkatalog). Wer jetzt immer noch Lust hatte, 63 Minuten seines Lebens mit der Visionierung dieses dialoglosen Filmes zu verbringen, dem wurde sie spätestens nach dem Anschauen des Trailers ausgetrieben.

Philosophieren über heisse Luft

Der einzige Grund, sich den dritten Adult-only-Film anzutun, hiess Chiara Mastroianni. Das Festival zeichnete die französische Schauspielerin mit dem diesjährigen „Excellence Award“ für die schauspielerischen Leistungen ihrer bisherigen Karriere aus. Es war der erste Preis überhaupt, welcher der Tochter von Catherine Deneuve und Marcello Mastroianni verliehen wurde. Die Freude darüber stand der sympathischen Frau Mastroianni denn auch ins Gesicht geschrieben. Mit ihrem natürlichen Auftreten eroberte sie sowohl die Herzen der Pressevertreter als auch diejenigen des Piazza-Publikums im Sturm. Die Endfassung ihres neusten, am Tag nach der Preisverleihung präsentierten Films „Homme au bain“ hatte sie jedoch zuvor noch nicht gesehen. Nach der Vorführung wirkte sie am Podiumsgespräch denn auch seltsam gequält, obwohl sie beteuerte, doch doch, sie möge den Film sehr. Wahrscheinlich hatte sie dem Regisseur Christophe Honoré (in dessen drei letzten Filmen Chiara Mastroianni bereits mitgespielt und darin beachtliche schauspielerische Leistungen gezeigt hatte) einfach einen Freundschaftsdienst erweisen wollen. Dieser hatte eine Einladung erhalten, in Gennevilliers, einem Vorort von Paris, einen Film zu drehen.

Ein Gemälde aus dem 19. Jahrhundert von Gustave Caillebotte, auf welchem ein Mann von hinten zu sehen ist, der sich mit einem grauen Badetuch in einem weissen Raum abtrocknet, hat den Regisseur zu seinem Werk inspiriert. So sehen wir nun den bodygebuildeten Emmanuel, dargestellt vom französischen Schwulen-Porno-Star François Sagat, wie er sich nach dem Bad mit seinem Freund Omar vergnügt. Selbiger verlässt alsbald Gennevilliers, um Chiara Mastroianni an eine Filmpremière in New York zu begleiten. Während Omars Abwesenheit empfängt Emmanuel Besuch von diversen anderen Männern und auch Omar lässt fern der französischen Heimat nichts anbrennen. Eine wunderbare Liebesgeschichte eines Paares sei das, meinte das französische Mütterchen, welches nach der Filmvorführung die Publikumsdiskussion leitete und wunderschön über heisse Luft vor sich hin philosophierte.

homme au bain

Auf den Einwand einer Besucherin, ein grosser Teil des Publikums habe jedoch noch während der Vorführung des Films den Saal verlassen, antwortete der Regisseur, Liebesszenen zwischen zwei Männern seien eben auch in der heutigen Zeit noch immer heikel. Eine Erklärung, die etwas gesucht wirkte, denn das Locarneser Festivalpublikum gilt als aufgeschlossen, mag aber eines definitiv nicht: Langweilige, uninspirierte Filme. So gab es denn für „Homme au bain“ am Ende der Vorführung von den im Saal verbliebenen Zuschauern zu Recht deftige Buhrufe.

Philosophieren in der Badewanne

Das gleiche Schicksal ereilte im FEVI, der alljährlich fürs Festival zum 3200-plätzigen Kino umfunktionierten Mehrzweckhalle, der deutsche Wettbewerbsbeitrag „Im Alter von Ellen“. Vom Festivaldirektor als „einer der wichtigsten Filme des letzten Jahrzehnts“ bezeichnet, war das Machwerk der Regisseurin Pia Marais schlussendlich nur aus einem Grund einigermassen erträglich: Jeanne Balibar, die französische Actrice und Sängerin, welche in deutscher Sprache Ellen, die Protagonistin des Films, vorzüglich interpretiert. Die 40-jährige Flugbegleiterin wurde soeben von ihrem langjährigen Lebensgefährten verlassen, nachdem dieser ihre beste Freundin geschwängert hatte. Als sich zudem nach einer ärztlichen Kontrolle das Gefühl ihrer Unruhe zunehmend verstärkt, erleidet Ellen am Arbeitsplatz kurz vor dem Start des Flugzeuges eine Panikattacke und flüchtet. Daraufhin wird sie von ihrem Arbeitgeber entlassen.

Im Altern von Ellen

Ohne Job und gefühlsmässig heimatlos, trifft sie radikale Aktivisten der Gruppe „Front für die Tiere“ und zieht zu ihnen in ein besetztes Haus. Dort lernt sie Karl kennen, mit dem sie eine Scheinehe eingeht, um ihn vor dem Wehrdienst zu bewahren. (Man merke: Verheiratete Männer müssen also in Deutschland keinen Wehrdienst leisten!). Doch sowohl die Liaison mit Karl als auch ihr Tierschutz-Engagement scheinen für Ellen nur temporär zu sein. Nach einer philosophischen Diskussion in der Badewanne („Du bist eine Brücke für mich, mehr nicht!“) und einer letzten Hühnerbefreiungsaktion verliert der Film vollends seinen dramaturgischen Faden und wir begegnen Ellen irgendwo in Afrika, wo sie sich bei einer nicht näher bezeichneten Rebellenorganisation nützlich machen möchte. Ob sie dort ihren Lebenssinn und einen Ort findet, an dem sie gebraucht wird, erfuhren die geneigten Zuschauer (beziehungsweise diejenigen, welche beim Ende des Films immer noch im Saal sassen) jedoch nicht mehr.

Verbotenes und unterdrücktes Begehren

Auch in „Songs of Love and Hate“, dem ersten Schweizer Beitrag im Wettbewerbsprogramm, bleibt so einiges in der Schwebe. Regisseurin Katalin Gödrös führt uns in ihrem ersten Kinofilm mitten hinein in eine im Tessin ansässige Winzerfamilie (in welcher jedoch Standarddeutsch gesprochen wird;  ein Umstand, der einigen Festivalbesuchern etwas gar sauer aufstiess). Tochter Lilli (dargestellt von der 17-jährigen Sandra Horvath) entwickelt sich langsam aber sicher vom Mädchen zur jungen Frau, was Vater Rico ( Jeroen Willems) nicht ganz verborgen bleibt (und den Zuschauer, nebenbei bemerkt, sinnieren lässt, ob sich nun bereits 17-jährige Schauspielerinnen die Lippen aufspritzen lassen). Mehr noch, ein gewisses Begehren stellt sich bei Rico ein, welches er jedoch zu unterdrücken versucht, indem er sich seiner Tochter gegenüber je länger je abweisender verhält. Die zurückgestossene Lilli wählt nun ungewöhnliche Wege, um ihren Vater wieder auf sich aufmerksam zu machen. Zuerst muss der allseits geliebte Familienhund dran glauben: Stecken in den Fluss werfen, den Rest erledigt die Strömung.

songs of love and hate

Auch Freund Fabio (Joel Basman) wird langsam lästig und flugs erleidet er das gleiche Schicksal. Vater Rico durchschaut Lillis Spiel und fühlt sich verantwortlich für ihre Taten, vertuscht und ignoriert sie aber und wird somit zu Lillis Komplizen. Mutter Anna ist durch die Launenhaftigkeit und Unnahbarkeit ihres Mannes sowie die Kälte ihrer Tochter verunsichert, ohne die Ereignisse jedoch interpretieren zu können, währenddessen Lillis Schwester Roberta das Glück einer ersten, unbeschwerten lesbischen Liebe erlebt. „Der Film soll keine Erklärungen liefern, warum Lilli tut, was sie tut, soll nicht psychologisieren, sondern das Warum stehen lassen, es zwar umkreisen, mit Vermutungen berühren, aber nicht lösen“, meint die Regisseurin zu ihrem Werk. Das Psychologisieren wurde nach der Vorführung im vollbesetzten FEVI (und einem eher lauen Applaus) bei der traditionellen Publikumsdiskussion denn auch den Zuschauern überlassen, die eifrig von dieser Gelegenheit Gebrauch machten und engagiert über Familienbesetzungssysteme (Kinder werden durch Eltern erotisch besetzt) debattierten.

Zaghafte Annäherung zweier verwundeter Seelen

Ein kleines Filmwunder erlebte das FEVI-Publikum dann einige Tage später mit der Vorführung des zweiten Schweizer Wettbewerbsbeitrages „La petite chambre“. Der Rezensent kann sich nicht erinnern (und andere langjährige Festivalbesuchter pflichteten ihm bei) , dass seit „Gadjo dilo“ anno 1997 ein Film jemals eine solch brausende, den ganzen Abspann und darüber hinaus andauernde Standing Ovation erhalten hätte. Die ganze Erleichterung des Publikums, nach diversen Enttäuschungen endlich einmal ein Werk gesehen zu haben, bei dem einfach alles stimmt, schien im orkanartigen Applaus mitzuklingen. „La petite chambre“ erzählt von zwei Menschen, zwei fragilen Herzen, die sich beide weigern, ihre jeweiligen Lebensumstände zu akzeptieren.

Edmond (Michel Bouquet), dessen Sohn ihn am liebsten in einem Altersheim versorgen würde, lehnt es standhaft ab, seine eigene Wohnung mit den geliebten Pflanzen und damit seine Unabhängigkeit aufzugeben. Der Krankenpflegerin Rose (Florence Loiret Caille), welche den Auftrag erhält, bei ihm regelmässig nach dem rechten zu sehen, tritt er zu Beginn mit den Worten entgegen: „Ich bin immer froh, wenn die Pflegerinnen wieder verschwinden.“ Rose bietet ihm jedoch die Stirn und nach einem schweren Sturz ist Edmond gezwungen, die Hilfe von Rose zu akzeptieren. Als er nach dem Spitalaufenthalt feststellen muss, dass sein Sohn während seiner Abwesenheit die ganze Wohnung geräumt hat, quartiert ihn Rose kurzerhand bei sich und ihrem Mann ein. Dort entdeckt Edmond ein fertig eingerichtetes Kinderzimmer, in dem nur eines fehlt: Das Kind. Rose erlitt im achten Schwangerschaftsmonat eine Totgeburt. Seitdem hat sie sich in ihren eigenen Kokon zurückgezogen und ist – kaum mehr fähig, Freude für irgendetwas zu empfinden – auch für ihren Mann schwierig zu erreichen. Nur Edmond weiss, wie es sich anfühlt, einen geliebten Menschen zu verlieren.

petit chambre

Wie die beiden verwundeten Seelen zaghaft Sympathien füreinander entwickeln, ist etwas vom Schönsten, was im Schweizer Film in den letzten Jahren zu sehen war. Dies ist zu einem grossen Teil das Verdienst der beiden Hauptdarsteller: Michel Bouquet (der im letzten Jahrzehnt fast alle Angebote für Kinorollen abgelehnt hat und sich lieber auf seine Theaterengagements konzentriert) sowie die hierzulande noch wenig bekannte Florence Loiret Caille beweisen als Edmond und Rose eindrücklich ihr schauspielerisches Können. Man merkt, dass das Regisseurinnen- und Drehbuchautorinnen-Team Stéphanie Chuat und Véronique Reymond, welches nach Kurz- und Dokumentarfilmen mit „La petite chambre“ nun das erste Kinoprojekt realisierte, ebenfalls eine fundierte Schauspielausbildung hat und weiss, wie man Akteure führt und zu Höchstleistungen antreibt.

Mit ihrem Film hätten sie die Thematik der immer älter werdenden Gesellschaft in der Schweiz und der für immer mehr Menschen zur Wirklichkeit werdenden, wenig attraktiven Aussicht, die restlichen Jahre ihres Lebens in einem Altersheim zu verbringen, behandeln wollen, meinten die Regisseurinnen nach der Präsentation des Films. Inspiriert wurden sie durch ältere Personen in ihrem Umfeld, die Begegnung mit einem Altersheimdirektor (der ihnen erzählte, es gäbe Menschen, die ihre Eltern zu einem Kurzaufenthalt in einem Altersheim überredeten, währenddessen die Wohnungen der Eltern räumten und ihm anschliessend das Überbringen der Nachricht, dass die Eltern nun fortan ihren Lebensabend im Altersheim zu verbringen hätten, überliessen) sowie mit einem Paar, das sein Kind kurz vor der Geburt verlor und im Schrank des leeren Zimmers noch lange ein blaues Pyjama aufbewahrte.

Das Westschweizer-Regie-Duo lieferte mit „La petite chambre“ ein enorm reifes Erstlingswerk ab, bei welchem sich aktuelle Themen, grandiose schauspielerische Leistungen, wunderbare Bilder (gedreht wurde in der Region des Lac Léman) und traumhafte Musik (unter anderem des jungen Lausanner Pianisten Cédric Pescia) zu einem kleinen Kunstwerk verbanden, welchem eigentlich der Preis als bester Wettbewerbsfilm gebührt hätte. Den traditionell unberechenbaren Jurys in Locarno war der Film wohl aber zu konventionell: Kein einziger Preis wurde ihm zuteil.

Präzises Abbild der in Rumänien herrschenden Tristesse

Starkes Schauspielerkino bot auch der rumänische Beitrag „Periferic“. Der im dokumentarischen Stil gehaltene Film begleitet Matilda (Ana Ularu) während eines 24-stündigen Hafturlaubs. Die Hälfte ihrer Strafe hat sie bereits verbüsst. Sie plant jedoch nicht, ins Gefängnis zurückzukehren, sondern ausser Landes zu flüchten. Vorher will sie sich aber noch mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen und das für die Flucht nötige Geld auftreiben. So besucht sie zuerst ihren Bruder Andrei, der jedoch zögert, ihr seine Hilfe anzubieten und dessen Frau ihr ziemlich feindlich gegenübersteht. Als Nächstes trifft sie Paul, den Vater ihres 8-jährigen Sohnes Toma. Dieser ist dafür verantwortlich, dass Matilda im Gefängnis ist. Der Zuschauer erfährt, dass die beiden zusammen ein krummes Ding gedreht haben und Paul ihr noch 10’000 Euro schuldig ist, ihr das Geld jedoch erst nach der vollständig verbüssten Haftstrafe geben will. Zudem hat Paul den gemeinsamen Sohn Toma, da er sich nicht um ihn kümmern wollte, im Waisenhaus abgegeben.

Periferic

So macht sich Matilda zuletzt auf die Suche nach ihrem Sohn, der sich sein Geld bereits im zarten Alter auf dem Strich verdient. Mit ihm zusammen will sie sich nun in die Hafenstadt Constantia und von da ins Ausland aufmachen. Doch ihr eigener Sohn wird ihr diesen Traum zunichte machen. Nein, zu lachen gibt es wahrlich nichts in diesem Film. Regisseur Bogdan George Apetri, der nach einem abgeschlossenen Jus-Studium seine Heimat verliess, um in New York an der Columbia University einen Doppelabschluss in Regie und Kamera zu erwerben, bildet die Tristesse, die für viele seiner Landsleute auch zwanzig Jahre nach dem Ende des kommunistischen Regimes immer noch herrscht, exemplarisch am Beispiel seiner Protagonistin Matilda ab. Er folgt ihr ganz dicht  (teilweise in mit der Handkamera gedrehten, verwackelten Szenen), so dass man jede Pore im Gesicht Matildas sehen kann. Eine unglaublich starke, kraftvolle Frauenfigur ist das, dargestellt von der talentierten jungen Rumänin Ana Ulariu, von welcher man wohl in Zukunft noch einiges hören wird.

Pfeifenrauchen als Inspirationsquelle

Weniger der Realität, sondern mehr der Fiktion verpflichtet ist die amerikanische Produktion „Cold Weather“ des Regisseurs Aaron Katz. Er siedelt die Geschichte seines dritten Films in seiner oft regnerisch-trüben Heimatstadt Portland, Oregon an. Doug (Chris Lankenau) hat das Studium in forensischen Wissenschaften geschmissen und ist von Chicago nach Portland zurückgekehrt. Dort quartiert er sich bei seiner Schwester Gail ein. Während er sich darüber Gedanken macht, wie seine Zukunft aussehen soll, liest er mit Vorliebe alte Detektivromane. Bald findet er einen Job in einer Eisfabrik, wo er Nachtschichten arbeitet und Carlos kennenlernt, mit dem er sich anfreundet und den er mit seiner Leidenschaft für Detektivgeschichten, vorzugsweise jenen von Sherlock Holmes, ansteckt.

cold weather

Bald kündigt Dougs Ex-Freundin Rachel, die vorgibt, für eine Anwaltskanzlei zu arbeiten, ihren Besuch an. Als sie eines Abends zu einem vereinbarten Treffen nicht erscheint, fürchten unsere Hobbydetektive Doug und Carlos das Schlimmste. Mit ihrem durch die Lektüre von Romanen angeeigneten kriminalistischen Wissen machen sie sich auf die Suche nach Rachel, treffen auf immer rätselhaftere Hinweise und erfahren Stück für Stück die wahren Hintergründe für Rachels Besuch in Portland. Aaron Katz hat seinen Slow-Motion-Thriller mit einigen komödiantischen Elementen versehen. So machen sich Doug und Carlos, als sie bei ihren Ermittlungen nicht mehr weiterkommen, erst einmal auf die Suche nach einer richtigen Sherlock Holmes-Detektivpfeife, um zu rauchen und Inspirationen für das weitere Vorgehen zu finden. Leider ist die Auflösung der Geschichte etwas gar lau geraten. So applaudierte das Publikum denn auch eher spärlich.

Offenlegung der Praktiken eines menschenverachtenden Regimes

Ein ganz eigenes Kaliber in jeder Hinsicht war der einzige Dokumentarfilm im Wettbewerb. Der Chinese Xu Xin, der sich bereits in seinen bisherigen Filmen mit Vorliebe sozial diskriminierten Gruppen und Minderheiten widmete, hat mit seinem 6-stündigen (!) Mammutwerk „Karamay“ eine Art Requiem für diejenigen 323 Menschen (davon 288 Kinder zwischen 6 und 14 Jahren) geschaffen, welche im Dezember 1994 bei einem Brand in der Freundschaftshalle der chinesischen Stadt Karamay ums Leben kamen. Fast 500 Grund- und Mittelschüler sowie ihre Lehrer hatten sich darin versammelt, um einer Delegation von Vertretern der Erziehungsbehörden eine Vorführung zu bieten. Als inmitten dieser Darbietung ein Feuer ausbrach, wurden die Schüler gebeten, auf ihren Plätzen sitzen zu bleiben, damit die Gäste zuerst den Saal verlassen konnten. Während die Parteikader sich alle retten konnten, starb der grösste Teil der Kinder.

Nach der Tragödie unterlag die Berichterstattung über die Ereignisse der Zensur. Bis heute ist es den Familien der Opfer nicht erlaubt, öffentlich ihre Kinder zu betrauern. Regisseur Xu Xin hat nun 13 Jahre nach der Tragödie diejenigen Eltern aufgesucht, welche den Mut aufbrachten, vor der Kamera über die damaligen Ereignisse zu sprechen. Zu Beginn zeigt der Film minutenlang die Gräber der Opfer auf dem Xiaoxihu-Friedhof in Karamay. Bereits mit diesen ersten Bildern wird klar: Hier ist ein Regisseur am Werk, der auf jegliche Konventionen sowie die heutigen Sehgewohnheiten der Zuschauer pfeift und stattdessen dem Thema des Films und seinen mutigen Protagonisten den verdienten Platz einräumt.

karamay

Durch die Erzählungen der Eltern (geschickt verwoben mit Ausschnitten aus dem chinesischen Fernsehen sowie Amateur-Aufnahmen der Tragödie) kommen je länger je mehr Ungereimtheiten zum Vorschein: So kam es zum Ausbruch des Feuers, da ein 600-Watt-Scheinwerfer viel zu nahe an einem Vorhang platziert worden war. Zeit zum Entzünden gab es genug, weil die geladenen Gäste betrunken waren und deshalb zu spät in der Halle eintrafen. Da sich gleichzeitig ein Teil des Hallenpersonals weigerte, an jenem Tag zu arbeiten, war von 10 Ausgängen nur einer offen. Nach dem Ausbruch des Feuers dauerte es ganze 45 Minuten, bis die Feuerwehr eintraf, obwohl diese nur 5 Minuten vom Unglücksort entfernt liegt. Die Parteikader flüchteten, trampelten über die Leichen der Kinder und kümmerten sich keinen Deut um die Rettung der Verletzten. Die eintreffenden Ärzte brachten Kinder, die noch lebten, in die Leichenhalle. Alle Telefonleitungen der Umgebung wurden nach dem Unglück während 24 Stunden blockiert. Die Regierung löschte die Namen der Opfer in den Einwohnerverzeichnissen, ohne jedoch offizielle Todeszertifikate auszustellen. Um die Toten zu begraben, setzten die Behörden Bulldozer ein und nach vollbrachter Tat wurde in einer Meldung verbreitet, die Evakuierung und Beerdigung seien mit breiter und freudiger Unterstützung der Arbeiter und der Familien der Opfer über die Bühne gegangen. Noch mehr Zynismus und Verachtung seitens der Behörden gegenüber dem eigenen Volk ist kaum mehr möglich.

Ungeschönt offenzulegen, wie die Regierung, die Einheitspartei und die Behörden Chinas mit ihren  Landsleuten umgehen, ist das grosse Verdienst des Films. Kaum je zuvor haben ein chinesischer Film beziehungsweise die im Film zu Wort kommenden Personen derart offen erzählt, was sie von ihrem Staat halten, oder besser gesagt eben nicht halten. Auch Einschüchterungsversuche der chinesischen Regierung (Abhören der Telefone, willkürliche Inhaftierungen) konnten die Eltern nicht daran hindern, am Film mitzuwirken: Wut, Trauer und Enttäuschung waren zu gross. Mit seinem 356-minütigen Film gibt Xu Xin den Eltern der Kinder nun eine Stimme, die hoffentlich weltweit gehört wird. Die diesjährige offizielle Jury zeigte auch hier wiederum ihre Blindheit, indem sie diesen eminent wichtigen Film mit keinem einzigen Preis würdigte. Dafür wurde „Karamay“ von der Jugendjury mit dem Ersten Preis ausgezeichnet und erhielt von drei weiteren Jurys je eine lobende Erwähnung. Ein würdiger Abschluss eines nur stellenweise überzeugenden Wettbewerbes war „Karamay“ allemal.


Im Netz
http://www.pardo.ch

www.pardo.ch/… (Bas-Fonds)
www.lazombie.com
www.hommeaubain-lefilm.com
www.ellen.pandorafilm.com
www.filmcoopi.ch (Songs of Love and Hate)
www.vegafilm.com/… (La petite chambre)
www.pardo.ch/… (Periferic)
www.coldweatherthemovie.com
www.pardo.ch/… (Karamay)

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