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Memes als Quellengattung in der Geschichtswissenschaft

Buchumschlag

Memes haben sich zu einer neuen und weitreichenden historischen Quelle entwickelt, die in verschiedenen akademischen Disziplinen untersucht wird. Trotz ihres Potenzials wurden sie bisher in der Geschichtswissenschaft eher stiefmütterlich behandelt. Dabei bieten sie eine einzigartige und vielversprechende Informationsquelle. RUDOLF INDERST hat sich mit einem neuen Sammelband von Pia Froese und Daniel Meis beschäftigt, der erstmals Memes aus historischer Perspektive untersucht und seinen Schwerpunkt dabei auf den Ersten Weltkrieg legt.

Bisher waren in der Reihe culture – discourse – history der Herausgeber Thomas Düllo (UdK Berlin) und Jan Standke (Universität Braunschweig) im Logos Verlag Berlin sieben Bände erschienen; die Nummer acht stellt nun der Band Geschichtsmemes zum Ersten Weltkrieg. Die jüngste historische Quellengattung dar. Als Herausgeber:innen der 230-Seiten-starken Aufsatzsammlung fungieren Pia Froese, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf in der Abteilung Neueste Geschichte, und Daniel Meis, ebenso Wissenschaftlicher Mitarbeiter im selben Team sowie Lehrbeauftragter am Historischen Institut der Universität Stuttgart, die auch abseits der Publikation regelmäßig bei Projekten in Forschung und Lehre zusammenarbeiten.

Quellenarbeit in der Geschichtswissenschaft bezieht sich auf die systematische Untersuchung und Analyse von Quellen, die zur Rekonstruktion vergangener Ereignisse und Entwicklungen dienen. Diese Quellen können vielfältig sein und reichen von schriftlichen Dokumenten wie Urkunden, Briefen und Tagebüchern bis hin zu materiellen Artefakten, oralen Überlieferungen, Bildern und digitalen Datensätzen. Das Ziel einer ganzheitlichen Quellenarbeit besteht darin, historische Ereignisse zu verstehen, zu interpretieren und zu kontextualisieren, indem man sich auf die direkten Überlieferungen aus der Vergangenheit stützt. Es hat sich herausgestellt, dass es in der Disziplin der Geschichtswissenschaft bedeutsam ist, stets offen für neue Quellengattungen zu sein, da sich die Möglichkeiten der Quellenforschung im Laufe der Zeit erweitern. Neue Technologien und gesellschaftliche Entwicklungen führen oft zur Entdeckung oder Schaffung neuer Arten von Quellen, welche zuvor schlichtweg nicht verfügbar waren. Zum Beispiel haben digitale Archive und Online-Datenbanken den Zugang zu historischen Dokumenten erleichtert und ermöglichen es dergestalt Forschenden, bisher unerforschte Quellen zu erschließen.

Darüber hinaus können neue Quellengattungen dazu beitragen, bisher vernachlässigte Perspektiven und Stimmen in die Geschichtsschreibung einzubeziehen. Historische Aufzeichnungen sind nicht selten von allzu schnellen Urteilen, Lücken und selektiven Erzählungen geprägt, die bestimmte Gruppen oder Ereignisse marginalisieren. Die Integration neuer Quellen, wie beispielsweise die Untersuchung von Alltagsobjekten, Fotografien oder digitalen Kommunikationsformen, kann dazu beitragen, diese Lücken zu füllen und eine umfassendere und vielschichtigere Darstellung der Vergangenheit zu ermöglichen. Damit fördert die Offenheit für neue Quellengattungen in der Geschichtswissenschaft nicht nur die methodische Vielfalt und Innovation, sondern trägt auch dazu bei, die historische Forschung dynamisch und relevant zu halten. Durch die fortlaufende Erweiterung des Quellenkorpus können Historiker:innen neue Erkenntnisse gewinnen, bestehende Annahmen überprüfen und die Komplexität und Vielfalt menschlicher Erfahrungen im Laufe der Zeit besser verstehen. Und genau das ist der Zeitpunkt, um näher auf Memes einzugehen: 

Internet-Memes bilden ein faszinierendes Forschungsgebiet in der Wissenschaft aus verschiedenen Gründen: Zum einen sind sie ein Spiegel zeitgenössischer Kultur und bieten Einblicke in die sozialen, politischen und kulturellen Strömungen einer bestimmten Zeitperiode; durch die Analyse von Memes erscheint es Forscher:innen möglich, Trends identifizieren, welche in der jeweiligen Gesellschaft vorherrschen beziehungsweise rotieren, sowie die Dynamik der öffentlichen Meinung und die Verbreitung von Ideen untersuchen.

Memes, at their best, are accessible to millions of people and allow creators to bypass traditional gatekeepers of culture by offering new path towards creative distribution. At the same time, they upend longstanding beliefs around authenticity, art originality and authorship, political orientation and the economics of a bloated art system […]. (Dorian Batcka, 2020)

Darüber hinaus sind Memes ein interessantes Phänomen aus kommunikativer Sicht – sie nutzen oft visuelle und textliche Elemente, um komplexe Ideen auf humorvolle oder ironische Weise zu vermitteln. Die Untersuchung der Gestaltung und Verbreitung von Memes ermöglicht es Wissenschaftler:innen, die Mechanismen der Online-Kommunikation und die Rolle von Humor sowie Ironie in der digitalen Kultur in den Blick zu nehmen. Letztlich bieten Memes damit eine Möglichkeit, die Beziehung zwischen Individuen und digitalen Medien zu untersuchen. Sie sind oft das Ergebnis kollektiver Kreativität und können virale Verbreitung erfahren, was interessante Fragen zu Online-Identität, Gemeinschaftsbildung und digitaler Partizipation aufwirft.   

Wie Memes als geschichtskulturelle Phänomene funktionieren, ist gleichwohl noch wenig erforscht worden. Ihr Takt erscheint als ein anderer als in den Aufmerksamkeitszyklen der institutionalisierten Geschichtskultur, deren Mühlen deutlich langsamer mahlen. Allzu leicht lassen sie sich als populärkulturelle oder geschichtspolitische Phänomene abtun. (Daniel Brandau)

Leser:innen erwartet in Geschichtsmemes zum Ersten Weltkrieg. Die jüngste historische Quellengattung – neben einem Vorwort des hier bereits zitierten Daniel Brandau – neun Diskussionsbeiträge, welche sich durch die Bank durch eine angenehme Lesbarkeit auszeichnen, was alles andere als eine (deutsche) Selbstverständlichkeit im Wissenschaftsbetrieb darstellt. Dabei begreift sich der Band explizit als eine Ansammlung von „Pionierstudien von Fallbeispielen“ (S. 20), wie Froese und Meis in ihrem einleitenden Beitrag Geschichtsmemes als jüngste historische Quellengattung: Theorie, Problematik, Chancen und Herangehensweise anhand des Ersten Weltkriegs betonen: „Es wurde für den Sammelband mit dem Ersten Weltkrieg ein klar eingegrenztes Sachgebiet gewählt, um erstens die Feinheiten, Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede der Methoden der einzelnen Beiträge besser sichtbar werden zu lassen und zweitens genau diese Methoden nicht nur rein theoretisch vorzustellen, sondern in der konkreten, quellennahen Anwendung.“ (S. 20)

Der Erste Weltkrieg wird vielfach als der erste „totale Krieg“ angesehen. Er entlud bereits vorhandene Spannungen und Widersprüchlichkeiten in den konfliktgeprägten Dauerzustand des 20. Jahrhunderts, das durch Krieg, Bürgerkrieg und Blockkonfrontation gekennzeichnet war. Und er war die erste Auseinandersetzung, die neue technische Möglichkeiten nutzte – und so die Zerstörungspotentiale der industriellen Moderne offenbarte. (Wolfgang Kruse, 2013) 

Der Band zeichnet sich durch ein feines Gespür aus, was die Vielfalt und Themenbreite angeht: Exemplarisch können hier die Beiträge „I killed Franz Ferdinand lolz“ – Die Darstellung des Attentats auf Erzherzog Franz Ferdinand in Memes von Friederike Aschhoff, „Hey mexico attack usa if pro“. Das Zimmermann-Telegramm und der Kriegseintritt der USA im Meme-Diskurs von Marian Bornemann sowie Internet-Memes als partizipatorische Erinnerungspraktiken. Politische Geschichte zwischen Faktizität und Viralität in alternativen Öffentlichkeiten von Michael Johann und Christian Schwarzenegger genannt werden. 

Aschhoff nimmt in ihrem Beitrag Memes in den Blick, die das Sarajevo-Attentat behandeln: „Insbesondere soll der Frage nachgegangen werden, welches Bilde von den Akteuren des Anschlags vorherrscht und inwiefern dieses den historischen Tatsachen entspricht.“ (S. 23) Bornemann wiederum thematisiert die Entscheidung „der U.S.-amerikanischen Regierung am 6. April 1917, ihre Neutralität aufzugeben und dem Deutschen Kaiserreich den Krieg zu erklären“. (S. 77). Wie Bornemann anschaulich ausführt, wird eben jene Entscheidung auch in Form von Memes verhandelt. Johann und Schwarzenegger kommen schließlich in ihrem Beitrag zu dem Schluß, dass Memes eine interdisziplinäre Forschung geradezu herausforderten: „Hier ist beispielsweise die Kommunikationswissenschaft gefordert, belastbare empirische Evidenz zu den Praktiken der Erstellung und Verbreitung seitens der Meme-Nutzenden zu generieren und Verbreitungs- und Bewertungslogiken durch ihr Publikum zu rekonstruieren.“ (S. 147)

Der Beitrag Methodiken der Meme-Analyse in der Geschichtswissenschaft – Vergleichende Betrachtungen von Froese und Meis bildet zum Abschluss eine sinnvolle Klammer. Die Herausgeber:innen wiederholen noch einmal das ursprüngliche Ziel des Bandes, „einen ersten Aufschlag zur Analyse von Memes aus geschichtswissenschaftlicher Sicht zu leisten […]“ und unterstreichen, dass alle beteiligten Autor:innen „einen eigenen Weg gewählt [haben] und [versuchten,]  quellentechnisch mit diesen neuen Quellen umzugehen.“ (S. 153). Für die nächste Zukunft wünschen sich Froese und Meis folgerichtig, dass „weitere Studien“ nun zu folgen hätten, um „die Thematik besser verstehen und einordnen zu können.“ (S. 155). Nach der Lektüre dieses erhellenden Bandes kann man sich dieser Hoffnung nur anschließen – allerdings, so darf hinzugefügt werden – dann mit einem Autor:innen-Verzeichnis, damit unkompliziert Kontakt aufgenommen werden kann schnell Memes ausgetauscht werden können.  

 

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Geschichtsmemes zum Ersten Weltkrieg. Die jüngste historische Quellengattung

Pia Froese, Daniel Meis (Hrsg.)

ISBN 978-3-8325-5702-7
230 Seiten, Erscheinungsjahr: 2023
Preis: 54.00 € (Print)

 





Rudolf Inderst

*1978 in München. Lebte in (und ♥️) Kopenhagen. Er leitet mit Norman Volkmann das Ressort "Digitale Spiele" hier bei Nahaufnahmen. Liebt Genrefilmkost, Hörspiele und Podcasts. Spielt Videospiele seit etwa 40 Jahren. Lehrt als Professor für Game Design an der IU Internationale Hochschule. Einmal pro Woche bringt er den Newsletter DiGRA D-A-CH Game Studies Watchlist heraus.

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