Interview mit Loreena McKennitt

„Die Öffentlichkeit wird langsam auf die dunkle Seite dieses Internet-Technologie-Tsunamis aufmerksam“

Bild: © Richard Haughton

Die Klangbilder malende Sängerin und Multiinstrumentalistin Loreena McKennitt hat mit „Lost Souls“ soeben das erste Studioalbum mit Eigenkompositionen seit 12 Jahren veröffentlicht. Entstanden ist ein wunderbar heterogenes Werk mit ausgefeilten Arrangements, eine Art Resümee ihrer fast 35-jährigen Karriere als Künstlerin, inspiriert von keltischer Folklore und orientalischen Klängen und geprägt durch McKennitts glasklare, sich in höchste Höhen schwingende Sopranstimme, die in all den Jahren nichts an Kraft eingebüsst hat. Aus Anlass des neuen, möglicherweise letzten Albums sprach die Kanadierin mit Nahaufnahmen.ch über die negativen Auswirkungen eines eskalierenden Fortschrittsschubs, starke musikalische Duftnoten, den Kollaps der Musikbranche und ihre Entscheidung, sich von Facebook zu verabschieden.

Von Christoph Aebi

Nahaufnahmen.ch: Der Titel Ihres neuen Albums „Lost Souls“ hat mehrere Bedeutungen. Eine davon ist, dass die Ursprünge einiger Songs lange zurückliegen und sich die Lieder – wie Sie in den Notizen zum neuen Album schreiben – deshalb zeitweise wie verlorene Seelen angefühlt haben. Was war der Auslöser, dass Sie sich entschieden, diese Lieder nun aufzunehmen und auf dem neuen Album zu versammeln?

Loreena McKennitt: Viele Leute haben mir geschrieben und mich gefragt, wann ich endlich wieder ein neues Album mit eigenen Liedern veröffentlichen würde. Ich war in den letzten Jahren oft auf Tournee und habe mich zudem um meine Familie gekümmert. Meine Mutter war während einigen Jahren krank und ich habe sie betreut, bis sie gestorben ist. Deshalb habe ich lange Zeit kein neues Material mehr veröffentlicht. Ich hatte jedoch ein paar Lieder in der Schublade, die ich bereits vor einigen Jahren geschrieben, jedoch nie aufgenommen hatte. Nicht, dass ich sie nicht gemocht hätte, aber sie passten irgendwie nicht zu den Projekten, an denen ich zu jenen Zeiten gearbeitet hatte. Deshalb waren diese Lieder für mich eine Art verlorene Seelen. Sie warteten auf ein Zuhause oder einen Ort, wo sie in Erscheinung treten konnten. So kam ich auf den Titel des Albums und die Idee, Material zu kuratieren, das mit diesem Titel in Beziehung steht. Das ist für mich kein aussergewöhnlicher Vorgang. Ich versuche, bei der Arbeit an einem Album normalerweise bereits sehr früh einen Titel zu finden, zu welchem ich Lieder zusammentragen und kreieren kann.

Die Inspiration für das Titellied „Lost Souls“ fanden Sie bei der Lektüre von „A short history of progress“ des kanadischen Historikers und Anthroposophen Ronald Wright. In seinem Werk zeigt Wright die Gründe für den Untergang früherer Zivilisationen auf und konstatiert, dass die Menschheit in Bezug auf den technischen Fortschritt den moralischen Kompass verloren hat und wir zu verlorenen Seelen geworden sind.

Richard Wrights Buch basiert auf einer fünfteiligen Vortragsreihe, die er am Radio der Canadian Broadcasting Corporation hielt, jeden Abend eine Stunde lang. Ich habe die Vorträge damals nicht gehört, habe aber das Buch gelesen und fand es höchst interessant, wie er den Bogen der Zeit betrachtet. Er schaut sich den Aufstieg sowie den Untergang von Zivilisationen genau so an, wie man die Blackbox eines abgestürzten Flugzeuges analysiert. Wright ist der Meinung, dass wir Menschen dazu tendieren, in sogenannte Fortschrittsfallen zu geraten – und dass es gut möglich ist, dass wir uns im Augenblick gerade in einer dieser Fortschrittsfallen befinden. Es ist zwar bereits mehr als 10 Jahre her, seit Wright die Vorträge hielt und das Buch schrieb. Er fokussierte darin insbesondere auf Umweltthemen sowie auf die Entwicklung von Ausrüstungen und Kriegsgeräten, von Messern und Schwertern über Pistolen und Kanonen bis hin zu nuklearen Waffen. Wright sagt, wenn wir fähig sind, ein Kernwaffenprogramm zu entwickeln, haben wir vielleicht einen etwas zu grossen Fortschritt erzielt. Er ist der Ansicht, dass wir uns seit der industriellen Revolution zu sehr auf den technischen Fortschritt statt den ethisch-moralischen Fortschritt konzentriert haben. Dies scheint nun wieder ein sehr aktuelles Thema zu sein. Ich habe den ganzen Facebook-Cambridge-Analytica-Skandal genau verfolgt und befasse mich bereits seit fünf oder sechs Jahren intensiv damit, wie sich die neuen Technologien auf die Gesellschaft und insbesondere die Entwicklung bei Kindern auswirken. Ich bin der Meinung, dass wir an einem Punkt eines eskalierenden Fortschrittsschubs angelangt sind, speziell was die Automatisierung, Verbindungstechnologien sowie die künstliche Intelligenz betrifft. Uns fehlt jedoch die moralische und ethische Diskussion, die mit diesem technischen Fortschrittsschub einhergehen sollte. Deshalb ist das Titellied im Augenblick das für mich relevanteste und wichtigste Stück des neuen Albums.

Der Begriff der „verlorenen Seelen“ findet sich auch im Text von „Spanish Guitars and Night Plazas“, dem ersten Lied des neuen Albums, in dem Sie singen: „Now falls the light by your side / And flows to a sea of lost dreams / The ocean opens its arms to lost souls / Toils the night so it seems“. Welche Bedeutung hat der Begriff in diesem Kontext für Sie?

Ich kann mich ehrlich gesagt gerade nicht erinnern, woran ich zu jener Zeit, als das Lied entstand, gedacht haben könnte. Wie viele andere Künstler schreibe auch ich oft Texte, deren Aussagen auf eine metaphorische Art und Weise mitschwingen. Im Leben fühlt man sich manchmal sehr klar, zuversichtlich und selbstbewusst, was die Richtung angeht, die man einschlagen möchte. Zu anderen Zeiten wiederum fühlt man sich sehr verloren, wie wenn man im Wasser dahintreiben würde. Dieses Gefühl kann in Beziehungen auftauchen, aber auch in Bezug darauf, was man mit seinem Leben anfangen möchte. Es gibt so viele Möglichkeiten, sich verloren zu fühlen, bezüglich der Ziele, nach denen man im Leben strebte und die man erreichen wollte.

„Spanish Guitars and Night Plazas“ steht exemplarisch für die exquisiten und komplexen Arrangements Ihrer Lieder sowie dafür, dass Sie sich mit den besten Musikern ihres Fachs umgeben. Wie wählen Sie aus, welche Instrumente Sie für ein Lied benötigen und wie sind Sie auf Daniel Casares und Miguel Ortiz Ruvira gestossen, die gegen Ende des Liedes die Klänge der Flamenco-Gitarre und Flamenco-Perkussionsinstrumente zu einem wahren Crescendo anschwellen lassen?

Wir haben nach grossartigen Musikern, die Flamenco spielen, Ausschau gehalten und Daniel sowie Miguel gefunden. Sie sind schlicht und einfach fantastisch! Ich betrachte die verschiedenen Instrumente, die in meinen Liedern zu hören sind, als Teil meiner musikalischen Farbpalette. Ich versuche, mit ganz spezifischen Farben sozusagen Klangbilder zu malen und habe realisiert, dass die Instrumente und die Ausdrucksweise, mit der sie gespielt werden, einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, einen bestimmten Ort oder eine bestimmte Zeit zu evozieren. Für „Spanish Guitars and Night Plazas“ wollte ich unbedingt einen Flamenco-Gitarristen und keinen Gitarristen, der ab und zu auch noch Flamenco spielt. Mir ist die Authentizität, die damit einhergeht, sehr wichtig. Ich stehe zwar im Mittelpunkt, weil ich die Musik komponiere, Texte vertone oder eigene Texte schreibe, aber ich sehe mich ebenfalls als Arrangeurin und eine Art Vermittlerin, die ganz spezielle musikalische Texturen und Instrumente fördert. Das kann sogar ein sehr altes Streich-Instrument wie die Nyckelharpa sein. Ich mag deren Rauheit viel lieber als der Klang einer Violine, der sehr süss sein kann. So erreiche ich, was das Klangbild betrifft, ganz spezielle emotionale Resultate.

Für das neue Album haben Sie – nach „Stolen Child“, „The Two Trees“ und „Down by the Sally Gardens“ – mit „The Ballad of the Fox Hunter“ wiederum ein Gedicht des irischen Poeten William Butler Yeats (1865 – 1939) vertont. Was fasziniert Sie an seiner Lyrik?

Die Gedichte von Yeats sind einfach wunderschön und die Sprache, die er in seiner Lyrik benutzt, ist sehr bildhaft. Sie funktioniert in einem bestimmten Metrum, die Wörter sind singbar und das macht seine Werke für eine Vertonung höchst attraktiv. Yeats interessierte sich zudem sehr für die Mythologie und die Folklore Irlands sowie der Kelten, was bis zu seiner Poesie durchsickerte. Er hatte aber auch den Blick für das grosse Ganze. Das alles sind Dinge, die ich interessant und anziehend finde.

Besonders beeindruckend an „The Ballad of the Fox Hunter“ ist, dass Yeats dieses Gedicht über einen alten Mann, der sich in Anbetracht seines nahenden Todes wünscht, noch einmal seiner früheren Leidenschaft frönen und bei einer Fuchsjagd dabeisein zu dürfen, schrieb, als er erst 24 Jahre alt war. Die Art und Weise wie er die Szenerie beschreibt, den Kontrast zwischen der Beharrlichkeit und der Schwäche des alten Mannes, zeugt von einer grossen Empathie und Beobachtungsgabe.

Das stimmt. Mich faszinierte an diesem Gedicht auch noch ein anderer Aspekt: Die Reflexion über die Beziehungen, welche verschiedene Lebewesen miteinander haben können. Sehr häufig sieht man Menschen zusammen mit Hunden oder anderen Haustieren. Da ich auf einer Farm lebe, kann ich aber auch beobachten, wie beispielsweise Katzen oder Vögel mit Rindern umgehen. Das Gedicht ist eine faszinierende Studie über die Kommunikation zwischen den Lebewesen. Zudem erschien mir bei diesem Gedicht wichtig, dass die Wahrnehmung nicht immer nur vom Sehen oder Hören abhängt. Manchmal geht es bei der Wahrnehmung auch darum, etwas zu fühlen oder zu empfinden, sogar eigentlich unsichtbare Dinge. Hunde haben beispielsweise ein hochsensibles Geruchsempfinden. Sie können Veränderungen sehr schnell riechen, noch bevor wir Menschen diese bemerken. Es geht darum, sowohl unsere Sinne zu analysieren, als auch zu schauen, inwiefern diese bei den einzelnen Lebewesen stärker oder schwächer ausgeprägt sind und wie sich die Erkenntnisse daraus auf unsere Wahrnehmung und auf unser Verhältnis anderen gegenüber auswirken.

Bild: © Demetris Koilalous

Ein anderes, sehr berührendes Gedicht, das Sie für dieses Album vertont haben, ist „La Belle Dame Sans Merci“ des englischen Romantik-Poeten John Keats (1795 – 1821). Darin wird ein bleicher, ausgemergelter, von Fieberträumen geschüttelter Ritter in einer trostlosen Winterlandschaft aufgefunden. Er berichtet, wie er eine attraktive feenartige Frau traf, die ihn in ihre Elfengrotte lockte, wo sie ihn in den Schlaf und einen Alptraum wiegte, der von totenbleichen Königen, Prinzen und Kriegern bevölkert war. Wer sich etwas mit der Biographie von Keats beschäftigt, kommt zum Schluss, dass dieses Gedicht eine Art Essenz seines damaligen Lebens ist. Er schrieb das Gedicht im Alter von 24 Jahren, an Tuberkulose schwer erkrankt und in eine Frau verliebt, die er nicht heiraten konnte, weil er zu arm war.

Um ehrlich zu sein, habe ich das, was Sie mir soeben über die Biographie von John Keats erzählt haben, gar nicht gewusst. Sie haben diesbezüglich mehr recherchiert als ich (lacht). Das Schöne an gut geschriebener Poesie ist, dass man sie aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten kann. Als ich zum ersten Mal auf das Gedicht gestossen bin, habe ich deshalb wohl etwas anderes darauf projiziert. Ich kannte einen ehemaligen Soldaten, der fast 90 Jahre alt war. Deshalb dachte ich beim Lesen des Gedichtes darüber nach, wie sich ein Soldat in einem Schlachtfeld in den letzten Stunden seines Lebens wohl gefühlt haben mag, möglicherweise halluzinierend, auf jeden Fall zurückdenkend an seine Liebsten und vielleicht sich wundernd, wozu diese Schlacht eigentlich gut ist. Ich mag es, auf jedem meiner Alben mindestens ein Lied zu haben, das eine längere Geschichte erzählt und finde es grossartig, solchen Geschichten zu folgen. Ich möchte meine Zuhörer motivieren und ermutigen, eine kulturelle Reise mit mir zu unternehmen. Das neue Album „Lost Souls“ ist auf eine gewisse Art sehr eklektisch. Ich weiss, dass einige Lieder sehr starke musikalische Duftnoten verströmen. Gewisse Songs werden deshalb bei den Hörern wohl mehr Anklang finden als andere, so wie dies beispielsweise bei sehr herzhaften und kräftigen Käsesorten der Fall ist (lacht). Aber sei’s drum: Diese neuste Liederkollektion ist so, wie sie ist.

Mir persönlich gefallen die starken musikalischen Duftnoten dieser sehr heterogenen Liedersammlung. Ein weiteres Lied, das von einem Soldaten handelt und vor allem von einer Mutter, die sich an ihren toten Sohn erinnert, ist „Breaking of the Sword“, das bereits letzten November zum Remembrance Day als Single veröffentlicht wurde. Im Arrangement des Liedes spiegeln Sie die Tatsache wider, dass beim Tod eines Soldaten nicht nur die eigene Familie trauert, sondern auch die militärische Familie sowie die örtliche Gemeinschaft, aus der dieser Soldat stammte. Die „Ottawa Central Band of the Canadian Armed Forces“ und der 90-köpfige „Stratford Concert Choir“, die im Lied zu hören sind, repräsentieren diese erweiterten Familien und Gemeinschaften. Hatten Sie dieses Arrangement bereits beim Schreiben und Komponieren des Liedes im Kopf?

Nein, nicht direkt, es hat sich so entwickelt. Ich wurde eingeladen, im April 2017 bei der 100-Jahre-Gedenkfeier zur Schlacht von Vimy Ridge in Frankreich, die sich während des Ersten Weltkrieges ereignet hatte und für die Kanadier sehr bedeutend war und ist, aufzutreten. Der Veranstalter fragte mich, ob ich in Betracht ziehen könnte, für diesen Anlass ein Lied zu schreiben, was ich dann schliesslich getan habe. Bevor ich es dem Veranstalter jedoch vorspielen konnte, hatte er entschieden, dass ich an der Gedenkfeier ein anderes Lied aufführen sollte, „Dante’s Prayer“ aus dem Album „The Book of Secrets“. Das Lied „Breaking of the Sword“ hatte ich also im Januar letzten Jahres bereits geschrieben, als ich mit der Arbeit am neuen Album begann. Trotzdem machte ich mir Gedanken darüber, ob es auf das Album gehört. Es ist nicht diejenige Art Lied, die ich im Hinblick auf ein Album kreiert hätte. Aber so wie sich eine Mutter um ihre Kinder kümmert, war ich besorgt, dass auch dieses Lied zu einer verlorenen Seele werden könnte. Zudem hatte ich sehr viel Arbeit in das Lied gesteckt. Deshalb entschied ich, dass es auf dem neuen Album seinen Platz bekommen sollte.

Was den kreativen Prozess betrifft: Ich hatte vor meinem Auftritt bei der Gedenkfeier das Denkmal in Vimy Ridge nie besucht. Aber ich habe Bilder von diesem gewaltigen Denkmal gesehen. Davor steht die Statue einer Frau mit gesenktem Kopf, die wie eine Mutter aussieht. Das brachte mich auf die Idee, das Lied aus der Perspektive einer Mutter zu schreiben, die eines Tages die Pilgerreise an den Ort unternimmt, an dem ihr Sohn starb und dort vor dem Grab und dem Denkmal steht. Ich stellte mir vor, was in ihrem Kopf dabei vorgeht. Wenn ich in einer solchen Situation wäre, würde ich wohl an den Tag zurückdenken, an dem mein Sohn geboren wurde sowie an seine Kindheit und Jugend und was wir alles gemeinsam erlebt haben. Natürlich würde ich mich auch an den Moment erinnern, als ich ihn zuletzt gesehen habe. Ein anderer Grund dafür, dass ich das Lied auf die Art und Weise geschrieben habe, wie es nun vorliegt, ist, dass ich zehn Jahre lang Ehrenoberst der Royal Canadian Air Force war. Deshalb bin ich mit der Bedeutung der militärischen Gemeinschaft bestens vertraut. Aber auch Ortsgemeinschaften und die lokale Bevölkerung betrauern den Verlust von Menschen, die ums Leben gekommen sind. Ich weiss nicht, ob Sie es gehört haben, aber kürzlich gab es in Kanada einen tragischen Unfall, bei dem ein Bus mit einem Junioren-Eishockeyteam an Bord mit einem Sattelschlepper kollidierte.

Ja, dieser Unfall war bei uns ebenfalls in den Medien präsent.

Das ganze Land ist nun in Trauer, die Flaggen wehen auf Halbmast. Viele tragen zudem Eishockeytrikots. Wissen Sie, Gemeinschaften leiden ebenfalls unter solchen Verlusten und ich finde, dass es wichtig ist, dies anzuerkennen.

Sie haben das neue Album wiederum in den Real World Studios von Peter Gabriel in der Nähe von Bath/UK aufgenommen, das idyllisch in die Natur gebettet in einer ehemaligen Mühle untergebracht ist. Zusätzliche Aufnahmen fanden in den Catherine North Studios in Hamilton/Kanada statt, einer zum Studio umfunktionierten ehemaligen Kirche. Wie stark beeinflusst die Umgebung, in der Sie Ihre Alben aufnehmen, die Lieder?

Ich habe das Gefühl, dass die Umgebung massive Auswirkungen auf die Aufnahmen hat. Deshalb vermeide ich es, in Studios zu arbeiten, die in Kellern und Untergeschossen liegen. Meine Kreativität ist einfach grösser, wenn ich mich in unmittelbarer Nähe zur Natur befinde. Wenn das für die Aufnahmen nicht möglich ist, dann suche ich nach Studios, die sich in Gebäuden mit traditioneller Architektur befinden. In dieser Art von Kulturgütern hat es oft hohe Decken, durch die man einen ganz bestimmten Klang erhält. Das Album „The Wind That Shakes the Barley“ beispielsweise haben wir im „Sharon Temple“ – einem sehr interessanten, aussergewöhnlichen Raum nördlich von Toronto –aufgenommen. An solchen Orten fühlt man die Geschichte um einen herum, die Stimmung des Gebäudes – insbesondere wenn es Gebäude des Kulturerbes sind, aus einer Periode, in der richtige Handwerksmeister und Handwerksmeisterinnen am Bau beteiligt waren. Solche historischen Gebäude sind aus natürlichen Materialen wie Steinen und Holz gebaut und strahlen eine grosse Intimität und Vertrautheit aus. Ich bin sehr gerne an Orten, die auf irgendeine Art eine historische Verbindung haben.

Sie haben kürzlich gesagt, dass die letzten zehn Jahre für Sie sowohl auf persönlicher als auch professioneller Ebene oft sehr anspruchsvoll und aufreibend waren. Welches waren Ihre grössten Herausforderungen als Musikerin, Sängerin, Produzentin und Geschäftsfrau, die ihr eigenes Label betreibt?

Ich habe meine Karriere über den ganzen Zeitraum von mittlerweile mehr als 30 Jahren immer selber gemanagt. Ich hatte also nie einen traditionellen Manager, sondern Mitarbeiter, mit denen ich im Team arbeite. Es gab eine Zeit, in der ich zwei Büros betrieb, eines in London/England und eines hier in Kanada, und insgesamt 13 Mitarbeiter beschäftigte. Jetzt sind wir mit mir nur noch zu fünft und üben uns im Multitasking (lacht). Was ich und wir alle gesehen haben, seit ich 1985 mein erstes Album veröffentlichte, ist der Kollaps einer ganzen Branche. Die Musikindustrie war eine der Ersten, die durch das unregulierte Internet getroffen wurden, insbesondere durch das Fehlen eines ordnungsgemässen Urheberrechtschutzes und einer Urheberrechtsreform. Kanada war bedauerlicherweise eines der letzten Länder, welche diese umgesetzt haben. Das ganze Ökosystem der Musikbranche, das es einst gab – von Studios über Tontechniker, Grafikdesigner, Fotografen, Cateringunternehmen, Reiseveranstalter bis hin zu den Fachhändlern – , ist grösstenteils verschwunden. Das ist eine der grössten Herausforderungen bei der Veröffentlichung meines neuen Albums. In den letzten zehn Jahren hat sich das Musikbusiness zu einer komplett neuen Branche entwickelt. Ich musste völlig neue Vorgehensweisen lernen, um meine Musik unter die Menschen zu bringen. Social Media hat viele Printmedien und Radios verdrängt. Ich habe das Gefühl, dass es in Nordamerika noch schlimmer ist als in Europa, aber ich weiss, dass die Musikbranche in der ganzen Welt getroffen wurde. Die Kommunikation mit dem Publikum über die neuen Medien ist äusserst herausfordernd und nicht völlig zufriedenstellend (seufzt). Ich habe nun entschieden, mich auf den 1. Juni von Facebook zu verabschieden und in Zukunft über meine Website und Newsletter mit meinem Publikum zu kommunizieren. Ich und mein Team treffen gerade die letzten Vorkehrungen für diese Umstellung. Ich kann aus ethischer Sicht den Gedanken schlicht und einfach nicht mehr ertragen, dass ich und mein Label auf Facebook vertreten sind. Und was den Vertrieb von neuen Alben angeht, so hat er sich von einem physischen Produkt zu einem Download und weiter zum Streaming entwickelt. Bei einem Vinyl-Album oder einer CD erhält man als Künstler etwa 27 Cents pro Lied, bei Streaming-Plattformen nur 10 Cents für 10’000 Streams. Mir geht es gut, weil ich meine Karriere aufbauen konnte und diese ihren Höhepunkt erreicht hat, bevor das ganze Chaos ausbrach. Ich lebe und zehre von meinem künstlerischen Erbe. Aber ich beklage und betrauere den Untergang der Musikbranche wirklich sehr, weil es für viele Künstler kaum mehr möglich ist, ihre Kunst zu einem Beruf zu machen. Ich sehe kein lebensfähiges Geschäftsmodell für diese Branche, so wie sie sich aktuell präsentiert, auf dessen Basis junge Künstler wirklich zuverlässig eine Karriere aufbauen könnten. Es gibt sehr viele talentierte junge Menschen, aber spätestens wenn sie eine Familie ernähren müssen, suchen sie sich einen anderen Beruf.

Sehen Sie trotz dieser negativen Entwicklungen auch einen Hoffnungsschimmer am Horizont?

Ich finde an den aktuellen Ereignissen rund um Facebook und der Tatsache, dass Mark Zuckerberg vor dem US-Kongress und anderen Orten aussagen musste, vor allem eines signifikant wichtig: Die Öffentlichkeit wird langsam auf die dunkle Seite dieses Internet-Technologie-Tsunamis aufmerksam. Nicht dass ich der Ansicht wäre, dass es für Internet-Technologien keinen Platz gäbe. Aber ich bin wie Ronald Wright der Meinung, dass sich die Technologien viel zu schnell entwickelt haben, viel zu schnell zu weit gegangen sind und man – zumindest in der Musikbranche – nicht nach einem umsetzbaren Geschäftsmodell Ausschau gehalten hat. Wir wissen, dass das Motto von Silicon Valley lautet: „Move fast and break things!“ („Handle schnell und zerstöre Dinge!“). Dem muss man eigentlich nichts mehr hinzufügen, das sagt bereits alles.

Das neue Album „Lost Souls“ ist, insbesondere was die Musik betrifft, eine Art Resümee Ihrer fast 35-jährigen Karriere als Künstlerin und deutet dezent einen Abschluss an. Ich hoffe trotzdem, dass Sie mit diesem Album Ihre Karriere noch nicht beenden, zumal ich gelesen habe, dass Sie für die Recherche eines neuen Projektes in Indien waren.

Vor vier Jahren reiste ich nach Indien, in der Hoffnung, danach in der Lage zu sein, ein Album mit neuem Material aufzunehmen, das auf den Verbindungen zwischen Indien und den Kelten basiert. Aber dieses Projekt erforderte schliesslich mehr Zeit als ursprünglich angenommen. Ich möchte gerne sagen, dass es ein weiteres Album geben wird, aber es könnte durchaus sein, dass „Lost Souls“ mein letztes Album ist. Der Grund dafür ist im Wesentlichen, dass das Musikbusiness so schrecklich kaputt ist. Es braucht heutzutage viel mehr Zeit und einen unverhältnismässigen Kraftaufwand, um im Markt zu bestehen und im Geschäft zu bleiben. Wenn das Musikgeschäft noch so wäre, wie es vor zwanzig Jahren war, wäre es etwas ganz anderes. Es gibt zwar sehr viele kreative Dinge, die ich gerne weiterhin machen würde. Aber ich könnte nun auch in Rente gehen und es würde mir trotzdem gut gehen. Zumal ich eine Familie habe und mit ihr gerne mehr Zeit verbringen möchte. Zuerst werden wir jedoch in den nächsten zwei Jahren mit dem aktuellen Album rund um die Welt oder wenigstens in einem grossen Teil der Welt auf Tournee gehen. Danach werden wir sehen, wie es weitergehen wird.

Wissen Sie schon, ob Sie auf Ihrer Tournee auch in der Schweiz Halt machen werden?

Wir sind derzeit dabei, die Pläne für zwei Europatourneen im März und Sommer 2019 zu erstellen. Ich hoffe sehr, dass wir zum einen oder anderen Zeitpunkt in die Schweiz kommen werden, weil wir es immer sehr genossen haben, in eurem Land zu spielen.

 

Aktuelles Album:
„Lost Souls“ (Quinlan Road / Phonag Records), als CD und LP erhältlich

Live:
Do, 21. März 2019  Zürich, Samsung Hall

Offizielle Homepage:
https://loreenamckennitt.com/

 

 

 

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